Chance The Rapper - The big day

Chance The Rapper
VÖ: 26.07.2019
Unsere Bewertung: 4/10
4/10
Eure Ø-Bewertung: 3/10
3/10

Der Hochzeitscrash

Zufälle? Gibt es angeblich nicht. Und so müssen wir bei Chance The Rapper vielleicht von Schicksal sprechen, wenn es um die diversen kleinen Punkte geht, die hinsichtlich seines letzten Mixtapes "Coloring book" und seines nun endlich veröffentlichten Debütalbums "The big day" auffallen. Ein paar Zahlen also zu Beginn, bevor es ans Eingemachte geht: Genau 38 Monate liegen zwischen den beiden Erscheinungsterminen. Und wenn man bei der einen kleinen Sekunde Unterschied ein Auge zudrückt, ist der Neuling quasi genau 20 Minuten länger als sein Vorgänger. Ach, und schau – die Bewertung hat sich glatt halbiert! Bitte, was? Als Chancelor Bennett eine Woche vor tatsächlicher Veröffentlichung von "The big day" in Jimmy Fallons "Tonight show" darüber sprach, war das wie ein kleiner Aufschrei in der Musik-, mindestens aber in der HipHop-Szene. Die jahrelange Weigerung des Rappers, seine Scheiben einfach mal wie jeder andere auch als richtiges Studioalbum zu bezeichnen, war mittlerweile längst berüchtigt. Nun sollte es also doch passieren und auch noch eine kleine familiäre Geschichte werden: Das Album dreht sich hauptsächlich um die Hochzeit von Chance, dessen Beziehung zu seiner Frau nicht immer ganz ohne Stolpersteine blieb, und um ihr Leben mit dem gemeinsamen Kind.

Das Problem? Schwer zu sagen. Zum einen ist "The big day" einfach zu lang – 19 Songs und drei Skits erstrecken sich über 77 Minuten Spielzeit –, und es mangelt an allem, was Chances Musik sonst ausgemacht hat. So sehr man dem 26-Jährigen sein persönliches Glück nämlich wünscht, so öde ist es auch, ihm zuzuhören. Stellenweise klingt er hier gar abgedroschen, und so vergeht dem Hörer jenes Dauergrinsen, das Chance seit jeher im Gesicht zu tragen scheint, recht schnell. Stichwort Länge: Für ein derart aufgeblasenes Album braucht man nicht nur live den Atem, sondern auch daheim mit Kopfhörern auf den Ohren das nötige Sitzfleisch. Da hilft auch die durchaus beachtliche Anzahl an namhaften Gaststars nicht, die Chance hier versammelt, wenn "The big day" derart mit Füllmaterial gespickt ist. Auch Death Cab For Cutie bewahren "Do you remember" nämlich leider nicht davor, vor Kitsch überzulaufen dank der vertonten zuckrigen Limonaden-Süße und den glücklichen Familienbildern, die da vorm inneren Auge vorbeiziehen. Kaum verwunderlich wäre es, wenn das Teil zumindest in der US-amerikanischen Heimat demnächst im Hintergrund irgendeiner Wahlwerbung für einen der vielen, vielen demokratischen Präsidentschaftskandidaten erklingen würde.

Das von En Vogue – dooon't let goooo! –, Ari Lennox und Kierra Sheard unterstützte "I got you (Always and forever)" nervt schnell nicht nur wegen seiner altbackenen Produktion, sondern vor allem durch Chances schlicht anstrengende Tonlage. Dann wären da auch noch solche an eine umstürzende Hochzeitstorte erinnernden Vollkatastrophen wie der Titeltrack, in dem Chance allen Ernstes die Zeile "The only way to survive is to go crazy" säuselt, nur um anschließend gemeinsam mit den Electronica-Gästen Francis And The Lights zum kollektiven Einschlafen zu animieren, das durch – Obacht! – eine kurze, völlig unpassende Eruption unterbrochen wird. Keine Sorge, sie dauert nicht lange an, die Reise ins Traumland geht bald weiter, auch "5 year plan" sei Dank, an dem tatsächlich der Disney-Komponist Randy Newman mitwirkte. Niedlich? Ja, klar. Aber es gibt eben auch zu niedlich, und dieses Album ist ein gutes Beispiel dafür. Hohlphrasen wie "Sounds crazy but it's true / You can get over anything, almost" erschweren die Situation zusätzlich.

Und doch ist nicht alles schlecht an "The big day" und Chance selbst ja eigentlich auch ein Guter. Umso fassungsloser macht einen der leider ungewöhnlich große nichtssagende Teil des Albums. Es fehlt an wirklichen Botschaften, an Hooks, an authentischem Spaß an der Sache, stattdessen gibt es eine seltsam anmutende, aufgesetzte Art von Freude, die wie das Lachen aus der Dose in Neunzigerjahre-Sitcoms beim spätestens dritten Mal stört. Zu selten ertönen kleine, aufblitzende Highlights wie etwa "Slide around" oder das abschließende "Zanies and fools", beide mit der großzügigen Hilfe von Nicki Minaj, die hier allerfeinstes Material abliefert. Oder auch das energetisch auf dem Dancefloor aufstampfende "Handsome", bei dem sogar Oma und Opa sich genauso zur tanzenden Hochzeitsgesellschaft begeben wie im immerhin einigermaßen spannenden, weil nicht ganz so träge zum Einheitsbrei gehörenden "Ballin flossin". Ansonsten? Gibt es das nicht aus dem Quark kommende "We go high" mit zunächst nettem Neunzigerjahre-Beat, das sich spätestens ab der Hälfte in seiner Monotonie verliert. Darauf folgt das unfassbar nervtötende "Hot shower", bei dem man am besten nicht allzu sehr auf den Text hört. Und zu allem Überfluss versucht sich Chance dann auch noch an überholtem Videospiel-Pop-Rap in Form von "Get a bag" oder "Let's go on the run" sowie Fremdschäm-Stücken wie "Found a good one (Single no more)", für das sich wahrscheinlich sogar Will Smith zu schade wäre.

Es ist so, wie man in mancher Kommentarspalte nachlesen konnte. Da wurde gemutmaßt, dass Chance das Album unbedingt jetzt veröffentlichen wollte und unter dem selbst verursachten Druck ins Stolpern kam. So weh es auch tut, so gern man den Mann aus Chicago auch hat, so toll sein bisheriger Output auch war: "The big day" klingt wie eine Parodie auf Chance von jemandem, der ihn selbst nur vom Hörensagen kennt. Ja, Chance war immer der Gute-Laune-Rapper, dem man trotzdem gern zugehört hat, der etwas zu sagen hatte, der sich was traute. Nun machte er seine Trauung zum Thema dieses Albums, und man darf nur hoffen, dass seine Ehe besser verläuft als die Erfahrung mit diesem langersehnten und letzten Endes leider enttäuschenden Debüt eines Ausnahmetalents – für den dieser Fehltritt mit viel Glück ebenfalls eine Ausnahme bleibt.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Handsome (feat. Megan Thee Stallion)
  • Slide around (feat. Lil Durk & Nicki Minaj)
  • Zanies and fools (feat. Darius Scott & Nicki Minaj)

Tracklist

  1. All day long (feat. John Legend)
  2. Do you remember (feat. Death Cab For Cutie)
  3. Eternal (feat. Smino)
  4. Hot shower (feat. MadeinTYO & DaBaby)
  5. We go high
  6. I got you (Always and forever) (feat. En Vogue, Ari Lennox & Kierra Sheard)
  7. Photo ops (Skit)
  8. Roo (feat. Taylor Bennett & CocoRosie)
  9. The big day (feat. Francis And The Lights)
  10. Let's go on the run (feat. Know Fortune)
  11. Handsome (feat. Megan Thee Stallion)
  12. Big fish (feat. Gucci Mane)
  13. Ballin flossin (feat. Shawn Mendes)
  14. 4 quarters in the black (Skit)
  15. 5 year plan (feat. Randy Newman)
  16. Get a bag (feat. Calboy)
  17. Slide around (feat. Lil Durk & Nicki Minaj)
  18. Sun come down
  19. Found a good one (Single no more) (feat. SWV)
  20. Town on the hill
  21. Our house (Skit)
  22. Zanies and fools (feat. Darius Scott & Nicki Minaj)
Gesamtspielzeit: 77:20 min

Im Forum kommentieren

Elefantenhaut

2019-08-21 09:55:10

Der gute Chäncelör (Ehemann und Vater) scheint auch so ne sehr gereifte Person zu sein: Auf die ganzen gefrusteten Reaktionen von seinen Fans zu diesem Schrottalbum reagierte er schlicht mit einem "EAT A DlCK" auf seinem Twitteraccount.


good kidd, m.a.a.d. forum

2019-08-08 21:18:06

Hey kidd! Schön dich wiederzusehen. Konntest dudich denn mittlerweile wenigstens mit Endless und Blonde anfreunden?

Liebe Grüße, dein größter Fan!

captain kidd

2019-08-06 20:54:45

Die ersten beiden Tracks gehen noch halbwegs, danach wird es leider wirklich gruselig. sehr sehr schade. Und völlig unverständlich.

Felix H

2019-08-05 19:24:19

Mich wundert, dass Chance wohl echt der Meinung sein muss: "Jep, kann man so veröffentlichen, ist total unterhaltsam, sind gute Songs."
Ganz furchtbares Album, kein Vergleich insbesondere zu "Acid Rap".

MopedTobias (Marvin)

2019-08-05 19:11:09

Dieser Beitrag von Achim ist nicht besser oder schlechter als sein bisheriger Output. 0/10 kann man also geben xD

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