Stereo Total - Ah! Quel cinéma!
Tapete / IndigoVÖ: 12.07.2019
Die Unvermeidlichen
Auch wenn sie zuletzt bei Plattentests.de alles andere als gut wegkamen: Stereo Total gebührt Respekt. Für die Konsequenz, mit der sie seit 25 Jahren unbeirrt ihre Masche aus Lo-Fi-Pop, Elektro-Punk, französelndem Chichi und Yéyé-Beat durchziehen. Und vor allem für die Arglosigkeit, mit der sich Françoise Cactus und Brezel Göring ständig selbst ans Messer und ihren Kritikern Munition en masse liefern. "Zeig mir, wie es ist, wenn Du nischt mehr bist" oder "Die Frau in der Musig ist nervisch" – Zeilen, die ungeachtet mancher Doppelbödigkeit schon vielen aus der Seele gesprochen haben dürften. Ganz zu schweigen von kalkulierten Frivolitäten wie "Komplex mit dem Sex" oder "Du bist gut zu Vögeln", bei denen man sich fragt, wer, pardon, was als nächstes kommt. Faire l'amour avec le baguette comme ça? Und dazu la musique avec le Vorschlag’ammeur?
Anders gefragt: Sie werden doch nicht ernsthaft glauben, dass sich auf dem zehnten Studioalbum des Duos etwas ändern würde? Dann liegen Sie richtig. Und das ist auf bizarr-liebenswerte Weise sogar gut so. Wie Göring bei "Mes copines" in Cactus' Auftrag über deren unmögliche Freundinnen herzieht, dabei die Rhythmusspur aus Cabaret Voltaires "Nag nag nag" bemüht und der Refrain einen kleinen Analog-Pogo inklusive aus dem Leim gehender Ätzgitarre hinlegt, ist nicht weniger als wunderbar. Das launige "Cinémascope" leistet sich vergleichsweise opulente Streicher und lässt die Protagonistin vom Bett aus auf die Leinwand stieren – "Ah! Quel cinéma!" heißt hier nämlich nicht, dass Stereo Total gut gelaunt in die Spätvorstellung gehen, sondern steht für eine oft böse, böse Außenwelt, vor der sich die Protagonisten gerne verkriechen.
Denn was muss man da alles sehen. Zum Beispiel die verkrachte weibliche Existenz, die in "Ich bin cool" ihre seelischen Schrammen mit Sonnenbrille, Hüten und Stiefeln zu kaschieren versucht. Und wo Fraktus zu gekipptem elektronischem Talking-Blues ein tröstliches "Freunde sind friends" säuseln, zieht der "Hass-Satellit" als trauriger Vertreter einer Generation einsamer Smartphone-Zombies ganz und gar freudlos seine Bahnen. Göring hingegen wirkt in "Brezel says" wie ein erkälteter Dada-Morrissey, der das Casio-Geplucker aus Trios größtem Hit nachbaut und das eigene Schaffen mit den Worten "He's the worst artist you could dream of" diskreditiert. Fatalistische Selbsterkenntnis aus der Vorhölle der Post-Ironie – doch das gehört dazu in diesem höchst wechselvollen Spiel mit Trash-Appeal und mutwilliger musikalischer Limitiertheit.
Da ist es fast eine Erleichterung, wenn Cactus im patzigen Groover "Die Dachkatze" ihre Krallen ausfährt und wenn nicht dem aufdringlichen Verehrer die Augen aus, so doch schnell die Kurve kratzt. Keine Chance also für die Liebe, wie die sich maßvoll durch eine kränkliche Beziehung orgelnde Sylvie-Vartan-Coverversion "Sur un fil" konstatiert. Zum Glück hat "Ah! Quel cinéma!" kurz vor Schluss den charmant sinnfreien Hopser "Keine Musik" in der Hinterhand und verkocht Rock'n'Roll-Klischees listig mit zickigem E-Funk und spitzen Licks – ähnlich wie im Andy Warhols Factory beleihenden "Methedrine" wissen Cactus und Göring nämlich durchaus etwas von Musik, wenn sie wollen. Und irgendwie sind Stereo Total am Ende auch so eine Art "Exploding Plastic Inevitable": extrem impulsiv, stets flexibel – und sie kommen immer wieder. Ob man nun will oder nicht.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Mes copines
- Cinémascope
- Keine Musik
Tracklist
- Einfach
- Ich bin cool
- Mes copines
- Cinémascope
- Methedrine
- Die Dachkatze
- My idol
- Hass-Satellit
- Brezel says
- Le spleen
- Sur un fil
- Dancing with a memory
- Keine Musik
- Elektroschocktherapie
Im Forum kommentieren
Armin
2019-06-29 20:27:14- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Armin
2019-06-26 11:52:00- Newsbeitrag
Die zweite Single aus dem neuen Album “Ah! Quel Cinéma!” (VÖ: 12.07.2019, Tapete/Indigo) von Stereo Total heißt „Hass-Satellit“.
Françoise Cactus: „Hass-Satellit ist ein Song über Einsamkeit im Kosmos. In ihren Spaceships reisen einsame Kosmonauten aneinander vorbei: Es ist Helas ein Bild unseres "modernen" Lebens.“
Das ist wirklich ein kontroverser Text - nicht nur für Stereo Total-Verhältnisse. Das vielleicht schlagerhafteste Lied, das Stereo Total jemals geschrieben haben, glänzt mit einer Textaussage, die bei allen, die genauer hinhören, Unwohlsein erzeugt. Von diesem Lied gibt es ebenfalls einen Remix, bei dem jede Zeile des verzweifelten Sängers mit höhnischen Comedy-Lachsalven kommentiert wird.
Armin
2019-05-08 18:45:58- Newsbeitrag
Die erste Single aus dem neuen Album “Ah! Quel Cinéma!” (VÖ: 12.07.2019 via Tapete/Indigo) von Stereo Total heißt programmatisch „Cinémascope“. Hier ist sie zu sehen. Und zu teilen.
„Cinémascope, so nennt man die Breitleinwand im Kinofilm. Dieses Format wurde z.B. sehr gern für Western verwendet. Die porträtierte Frau in "Cinémascope" verbringt ihr Leben im Bett. Die Außenwelt gefällt ihr nicht, und sie träumt lieber“, sagt Francoise Cactus und Brezel Göring ergänzt: "Cinemascope ist das perfekte Format, um das Leben eines Dackels zu verfilmen." Ich weiß nicht, welcher Technicolor-Verächter diesen Satz geprägt hat, aber Françoise Cactus hat gleich ein Lebensprinzip daraus geschmiedet: jetzt geht es in die Horizontale, und dann bleiben wir erstmal liegen! Mich begeistert der Mut und die Eleganz, mit welcher Françoise Cactus in diesem Lied die Rolle der Träumerin und Wirklichkeitsverleugnerin spielt - ein Standpunkt, den einzunehmen jeden Sänger in ängstliche Panik versetzt, aus Furcht davor, dass man ihn nicht als politisch bewußten, ernsten Kriktiker seiner Zeit wahrnehmen würde.“
Musikalisch findet man in diesem Stück alle Elemente, die eine typische Filmmusik auszeichnen, aber so eingesetzt, als wolle man genau dieses Genre verspotten: zwar gibt es ein opulentes Streichorchester, das aber so genügsam und monoton wie ein Drumcomputer spielt, es gibt eine Filmorgel, die allerdings so leiert, als habe man den Film mit einer zittrigen Handkurbel abgedreht und die Ennio-Morricone-Gitarre klingt, als sei sie von einem blutigen Anfänger aufs Tonband klamaukt worden.
Armin
2019-04-17 12:28:54- Newsbeitrag
STEREO TOTAL
Ah! Quel Cinéma!
CD / LP / Ltd. 2-LP / Digital
VÖ: 12.07.2019 (Tapete Records/Indigo)
Track by Track according to Stereo Total:
Cat No.: TR440
CD 173562 / 4015698858679
LP 173561 / 4015698426854
2-LP 173571 (ltd) / 4015698863260 (enthält sechs Bonustracks)
„Stereo Total – Ah! Quel Cinéma!“
Ein Plattentitel mit zwei Ausrufezeichen, der so viel bedeutet wie „was für ein Theater“ und den Hörer und die Hörerin einstimmt auf Lieder wie „Cinemascope“. Im Breitwandformat werden auf dieser gelegentlich sehr unterhaltsamen Platte Themen wie persönliche Verletzungen („Ich bin cool“), Verrat („Mes copines“), Persönlichkeitsdefizite durch Drogenmissbrauch („Methedrine“), Wut („Hass-Satellit“), Selbstüberschätzung („Brezel says“), Selbstmord („Le Spleen“), Trauer („Dancing with a memory“) und seelische Qual („Elektroschocktherapie“) zu Gehör gebracht.
Stereo_Total_Cover_Packshot
„Ich bin eine Sprachkünstlerin, die den Humor in Kauf nimmt“, soll Françoise Cactus einmal über sich selbst gesagt haben. Dem ist nichts hinzuzufügen, allerdings hat sie den gewohnten Stereo Total-Wortwitz nicht in allen Texten dieser Platte zum Zuge kommen lassen. Viele Stücke erinnern an ernste und verzweifelte Lieder, die sie in der Zeit ihrer ersten Band Les Lolitas geschrieben hat. Trotzdem schimmert in „Keine Musik“ oder „Einfach“ noch der anarchische Humor, der Stereo Total auszeichnet.
Musikalisch orientiert sich diese inzwischen zwölfte Stereo Total-Schallplatte an überhaupt nichts mehr. Konnte man auf früheren Alben noch von Einflüssen (Chanson, Trash, Disco, R'n'R, Punk, NDW) und musikalischen Stilmitteln sprechen, so sind Stereo Total jetzt in einem Universum angekommen, das nur ihnen allein zu gehören scheint und das an nichts Bekanntes mehr erinnert. Die gekonnte Produktion von Françoise Cactus auf 8-Spur-Kassetten-Technik trägt zum außergewöhnlichen Klangerlebnis bei. Brezel Göring spielt wie immer auf Musikinstrumenten, die Kinder aus gutbürgerlichen Haushalten wohl niemals zu Gesicht bekommen haben: Plastikbabyorgeln und schauderhafte Mäuseklaviere, dazu Selbstbaugitarren, die von einem handwerklich unbegabten Schreiner zusammengeleimt worden zu sein scheinen.
1. Stereo Total machen nach wie vor elektronische Musik, mit Flohmarkt-Casio-Klängen, die als direkte Kritik an dem was man unter elektronischer Musik versteht gelesen werden kann. Wahrscheinlich lässt sich jedes Musikinstrument in gesellschaftliche Koordinaten übersetzen, und in diesem Sinne sprechen die Arbeitsmittel von Stereo Total eine deutliche Sprache.
2. Stereo Total machen weiterhin auch immer noch LoFi-Garage-Rockmusik, die alle männlichen Klischees, die man mit Gitarrenmusik verbindet, lächerlich macht mit einem Gegenentwurf, der in Françoise Cactus' Schlagzeugspiel als Feminismus, Anti-Professionalismus und subversivem Dilettantismus mitschwingt. Es fällt schwer, Stereo Total irgendwohin einzuordnen, wahrscheinlich muss man einfach mit Flann O'Brien sagen: „Wann wird es je wieder ihresgleichen geben?“
Ach so, für die jüngeren unter euch: Stereo Total haben zu einer Zeit angefangen Musik zu machen, als es noch kein Internet, keinen Euro, kein wiedervereinigtes Deutschland und bevor es überhaupt Bands und Musik gegeben hat, und sie werden vermutlich auch noch spielen, wenn das hier alles bereits Geschichte ist. Die Gruppe besteht aus Françoise Cactus, die sich die Zeit zwischen den Bandproben als Radiomoderatorin, Autorin und bildende Künstlerin vertreibt und Brezel Göring, dem Mann, der schon bei der Wahl seines Künstlernamens versucht hat, von Musikkritikern und Feuilletonisten nicht ernstgenommen zu werden.
Sie haben begonnen gemeinsam Musik zu machen mit dem festen Vorsatz, Regeln und Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Zwar haben sie nicht die europäische Funktionsharmonik und die 4/4 Metrik abgeschafft, aber jeden anderen Aspekt bezüglich des Textens und musikalischer Umsetzung in Frage gestellt. Mit Stücken wie „Du bist schön von hinten“, „Liebe zu dritt“, „Ich bin nackt“, „Ich bin der Stricherjunge mit der Raucherlunge“ oder „Komplex mit dem Sex“ haben sie versucht, sich bei ernsten Musikfreunden unmöglich zu machen, andererseits mit einer Tontechnik weit unterhalb des Qualitätsstandards Mainstreamhörer zu erschrecken.
Stereo Total auf Tour:
12.09.19 Berlin, Festsaal
02.10.19 Leipzig, UT Connewitz
03.10.19 CZ-Prag, Café V lese
04.10.19 Dresden, Scheune
05.10.19 Nürnberg, Desi
06.10.19 AT-Wien, Fluc
07.10.19 München, Strom
09.10.19 CH-Zürich, Exil
10.10.19 Karlsruhe, P8
11.10.19 Frankfurt, Zoom
13.10.19 FR-Paris, Le Petit Bain
15.10.19 NL-Amsterdam, Bitterzoet
16.10.19 Köln, Gloria
17.10.19 Hamburg, Uebel & Gefährlich
18.10.19 Bremen, Lagerhaus
19.10.19 DK-Kopenhagen, Loppen
Booking: www.powerline-agency.com
Tracklist:
01) Einfach
02) Ich bin cool
03) Mes copines
04) Cinemascope
05) Methedrine
06) Die Dachkatze
07) My Idol
08) Hass-Satellit
09) Brezel says
10) Le Spleen
11) Sur un fil
12) Dancing with a Memory
13) Keine Musik
14) Elektroschocktherapie
Web:
http://www.stereototal.de
https://www.facebook.com/StereoTotal
https://twitter.com/stereo_total
https://www.instagram.com/stereototalmusic
Album-VVK:
https://shop.tapeterecords.com/stereo-total-ah-quel-cinema.html
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Spotify
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Forum
- Stereo Total (24 Beiträge / Letzter am 22.02.2021 - 17:06 Uhr)
- Stereo Total - Ah! Quel Cinéma! (4 Beiträge / Letzter am 29.06.2019 - 20:27 Uhr)
- Stereo Total - Les hormones (7 Beiträge / Letzter am 01.03.2016 - 11:36 Uhr)