Bill Callahan - Shepherd in a sheepskin vest
Drag City / H'ArtVÖ: 14.06.2019
Heimgeschleppt
Seit 1990 hatte Bill Callahan mit konstanter Beamtenpünktlichkeit alle ein bis zwei Jahre neue Musik veröffentlicht, gut zwei Dekaden später muss man schon mal etwas länger auf Neues von dem Mann warten. Aus einem völlig positiven Grund, versteht sich: Der früher als Smog bekannte Musiker hat geheiratet und ist 2015 zum ersten Mal Vater geworden. Nicht das erste Mal, dass privates Glück ein wenig hemmend auf die Inspiration wirkt, doch ein Umzug in die alte Heimat Austin brachte in diesem Fall alles wieder ins Lot. "It feels good to be writing again / Clear water flows from my pen", heißt es in "Writing", das mit seiner selbstreferenziellen Tiefenentspannung wunderbar fürs ganze Album stehen kann. Die schon "Dream river" prägende Lockerheit durchströmt "Shepherd in a sheepskin vest" in jeder Faser – suggeriert bereits durch das gewöhnungsbedürftig gezeichnete Cover-Porträt, das Potenzial zum Internet-Meme hätte, wäre Callahan der Twitter-Generation etwas geläufiger.
"I got married / To my wife / She's lovely", singsprecht dieser so vertraute Bariton in "Son of the sea", dem vielleicht essenziellsten Song der Platte. Frei von jeder Ambition erzählt der Familienvater in 20 Vignetten aus seinem Leben, was dem Hörer manchmal banal vorkommt, durch die intime Ehrlichkeit Callahans aber immer bedeutungsvoll ist. Dementsprechend gestalten sich die vielen kurzen Stücke auch nicht als undurchdringliches Avantgarde-Gewebe, sondern als mal mehr, mal weniger ausformulierte Akustik-Skizzen, die sich durch unerwartete Momente meistens voneinander abgrenzen können – hier eine melodische Richtungsänderung oder ein Tempowechsel, da eine Lap-Steel-Gitarre, Fidel oder Mundharmonika. So kippt im frühen Highlight "The ballad of the Hulk" durch einen plötzlichen Drumcomputer-Einsatz die ganze Stimmung, während das wundervoll warme "747" in einer instrumentalen Coda der puren Glückseligkeit kulminiert.
Anders als auf "Dream river" sucht Callahan nicht mehr nach Idyllen in der Natur, sondern hat sein Paradies längst im eigenen Domizil gefunden – dass er es so weit mit Familie, Haus und Auto gebracht hat, kann er selbst manchmal gar nicht fassen. Nur selten wird die friedvolle Ruhe gestört, etwa vom dissonant klopfenden "Released" oder den Bildern sterbender Höckertiere in "Camels", und noch seltener wagt sich der 53-Jährige in die dunkleren Ecken seiner Psyche vor, in denen er es sich früher so oft bequem gemacht hat. Diese Ausflüge sitzen: "Angela" könnte an die in der sechsjährigen Schaffenspause verstorbene Mutter gerichtet sein, begegnet dem Tod mit Optimismus, aber kommentiert auch die gegenseitige Entfremdung, die nun nicht mehr gekittet werden kann: "Like motel curtains, we never really met." Expliziter wird das tief berührende "Circles", Callahans sanft vertonte Sterbebett-Begleitung: "I made a circle, I guess / When I folded her hands across her chest."
Passend zur familiären Introspektion finden sich auch keine namhaften Gäste auf "Shepherd in a sheepskin vest" ein. Stattdessen steuert Ehefrau Hanly Banks ihren hellen Hintergrundgesang zum Cover des Folk-Standards "Lonesome Valley" bei, der thematisch so perfekt passt, als wäre er genau für dieses Album geschrieben worden. Obwohl alles so nahbar daherkommt und obwohl Callahan nichts an Sprachwitz eingebüßt hat – in einer besonderen Art der väterlichen Liebeserklärung nennt er seinen Sohnemann "my tugboat", also seinen Schlepper –, kann die Platte ein wesentliches Problem nicht übertünchen: Sie ist zu lang. Die fehlende Variation und das Verweigern großen Songwritings wären mit geringerer Laufzeit weniger ins Gewicht gefallen, aber so rauschen locker 20 von insgesamt 60 Minuten nur vorbei, ohne einen prägnanteren Eindruck als vages Wohlgefallen zu hinterlassen. Von einem der besten amerikanischen Songwriter seiner Generation hat man sich insgeheim ein bisschen mehr erhofft – auch wenn es Callahan absolut zu gönnen ist, dass er ein so selbstzufriedenes Album ganz für sich allein gemacht hat.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The ballad of the Hulk
- 747
- Son of the sea
- Circles
- Lonesome Valley
Tracklist
- Shepherd's welcome
- Black dog on the beach
- Angela
- The ballad of the Hulk
- Writing
- Morning is my godmother
- 747
- Watch me get married
- Young Icarus
- Released
- What comes after certainty
- Confederate Jasmine
- Call me anything
- Son of the sea
- Camels
- Circles
- When we let go
- Lonesome Valley
- Tugboats and tumbleweeds
- The beast
Im Forum kommentieren
kingsuede
2019-06-19 09:23:25
In der Länge ist das schon ein recht anstrengendes Album, das nicht vollends überzeugt, aber man wird mit einigen tollen Songs belohnt, wie etwa "747"oder "Son of the sea".
Momentan 7/10
kingsuede
2019-06-16 15:24:53
Ich habe das Album blind auf Vinyl bestellt. Die Wertungen gehen ja doch weit auseinander.
hallogallo
2019-06-09 19:47:39
Zauberhaftes Album von "Freibier Kalle", das ich mit 6/10 leicht unterbewertet finde. Die Songs sind etwas freier geschrieben, aber es ist ja nicht so, dass Callahan sich jetzt kozelekisiert und assoziativ ohne erkennbare Struktur schreibt.
Tom Green
2019-06-06 12:03:12
Würde mittlerweile eine knappe 7/10 zücken. Das Album hat definitiv seine Längen und der Zug zum ausformulierten Song fehlt (zu) oft. Und eine Großtat wie "Jim Cain" ist definitiv nicht dabei.
Dennoch insgesamt ein schönes Album, nur bei der Wahl der Highlights muss ich definitiv wiedersprechen:
"Morning is my Godmother", "Watch me get married" und "What comes after certainty" (ganz toll) ragen heraus, ansonsten viel Gezupfe, viel Stil und wenig Ausreißer nach (ganz) oben.
Armin
2019-06-06 11:37:55- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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