
Front Line Assembly - Wake up the coma
Metropolis / SoulfoodVÖ: 08.02.2019
Wenn's trotzdem kracht
"Vielleicht pressen wir auf die nächste Platte nur irgendwelche Höhlengeräusche." Kaum war 1990 der vorläufige Geniestreich "Caustic grip" eingeschweißt, hatten Front Line Assembly scheinbar die Nase voll von EBM und Elektro-Industrial, wie obiges Zitat nahelegt. Zum Glück nur scheinbar, denn Bill Leeb und Rhys Fulber definierten Anfang der Neunziger das ganze Genre neu – egal, ob mit dem Meisterwerk "Tactical neural implant" oder den nicht minder hochwertigen Projekten Noise Unit und Intermix, die nebenbei Terror-Techno, TripHop und House beackerten. Bald war jedoch Schluss mit der harten Herrlichkeit: Front Line Assembly wurden immer beliebiger, der chartige Ethno-Dance-Alias Delerium genoss Priorität, das 2013er Album "Echogenetic" und der Game-Soundtrack "AirMech" rauschten zuletzt ohne große Widerhaken durch. Mehr Koma als Amok.
Kein Wunder, dass der Titel des 17. Longplayers wie ein "Merkste selber, ne?!" der Kanadier an die eigene Adresse wirkt – auch wenn er natürlich auf vor Massenmedien verdämmernde Humanoiden, verderbliche Machtstrukturen und omnipräsente Ausspähung gemünzt ist. Schon "Eye on you" spricht eine deutliche Sprache und eröffnet als rigider Stampfer, der sich dank vergröberter Flächen-Sounds, Leebs tonlosem Gefauche und einer von DAF-Veteran Robert Görl höchstpersönlich programmierten, muskulösen Basslinie unausweichlich ins Zappelzentrum fräst. Ebensolchen Tumult veranstaltet "Arbeit", das zu knatterndem Uptempo maschinelle Motive der elektronischen Gründerzeit beschwört, wobei der in Wien geborene Frontmann den Refrain auf Deutsch radebrecht. Bohrend, simpel, doch dabei ungeheuer effektiv – ein Stahlgewitter von einem Track.
Front Line Assembly haben also das Ableben ihres Keyboarders Jeremy Inkel bestens verkraftet und sich außerdem alter Stärken besonnen: glasklare Arrangements und bei aller Brachialität vor allem exquisite Songs. Ein Treppenwitz, dass ausgerechnet auf "Wake up the coma" die erste Coverversion der Bandgeschichte zu finden ist: Auch wenn das leidlich originalgetreue "Rock me Amadeus" nicht zu den besten Stücken zählt, gibt James Euringer alias Jimmy Urine von Mindless Self Indulgence einen amüsanten Falco mit Wolldecke im Mund, nachdem sein Soloalbum bereits eine exaltierte Interpretation von Kate Bushs "Wuthering heights" enthielt. Und während Puristen sich mit Grausen abwenden, schlägt sich Leeb im teufelnden Brecher "Living a lie" gar mit einer außerirdischen Geliebten herum. Humor ist, wenn es trotzdem kracht.
Doch auch woanders gibt es stimmliche Abwechslung: Der akzentuierte Klargesang von Paradise-Lost-Frontmann Nick Holmes macht aus dem Titelsong einen prächtigen New-Wave-Groover, und Chris Connelly, bei Revolting Cocks und Cocksure eher für die Schweinigeleien zuständig, überzieht den maßvollen Abschluss "Spitting wind" mit unleugbarem Bowie-Charme. Allemal etwas anderes also als das an alte Clubrenner wie "Target" angelehnte "Proximity" oder das sich locker an einer formschönen Sequenz entlanghangelnde "Structures" – doch auch in solchen Stücken machen Front Line Assembly einen so aufgeräumten Eindruck wie lange nicht mehr. Von einem neuen Geniestreich muss man darum zwar noch nicht sprechen, wohl aber von einem so versierten wie exzellenten Album. Ohne Höhlengeräusche, dafür mit vielen großen Momenten.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Eye on you ft. Robert Görl
- Arbeit
- Living a lie
- Structures
Tracklist
- Eye on you ft. Robert Görl
- Arbeit
- Rock me Amadeus ft. Jimmy Urine
- Tilt
- Hatevol
- Proximity
- Living a lie
- Wake up the coma ft. Nick Holmes
- Mesmerized
- Negative territory
- Structures
- Spitting wind ft. Chris Connelly
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MasterOfDisaster69
2019-04-15 19:04:26
good to have you back.
https://www.youtube.com/watch?v=iM_DokBt0rk
https://www.youtube.com/watch?v=-zO0ExRwl3o
https://www.youtube.com/watch?v=zDwmVRWM64w
https://www.youtube.com/watch?v=JwQBt85Jmp8
Armin
2019-01-31 20:31:44- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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