Karies - Alice
This Charming Man / CargoVÖ: 12.10.2018
Unverlässlich zuverlässig
Wenn der Rezensent gerade einmal nicht für Plattentests.de rezensiert, produziert er meist Werbetext. So beispielsweise auch für eine Zahnarztpraxis aus NRW. Schreiberisch demnach ebenso in der Popkultur zuhause wie in der Stomatologie, ist er also genau der richtige Mann für diese Rezension, obgleich er nun den gefühlt 1000. Namensaufhänger in einer Review zur Stuttgarter Band bringt, tja. Was Karies (im Mund) jedenfalls von Karies (der Musikgruppe) unterscheidet, ist die Verlässlichkeit. Ersteres gräbt seit Menschengedenken dunkle Löcher in den Zahnschmelz und wird dieses ärgerliche Treiben wohl auf ewig fortsetzen, das Quartett jedoch stellt seinen bekannten Sound für "Alice" ziemlich auf den Kopf.
Mehr Fokus auf die Beat-Sektion bedeutet das einerseits, ausdifferenziertere Gitarren andererseits, hier und da findet man sogar ein paar Anleihen aus dem Dream-Pop, noch weniger überhörbar jedoch aus der Neuen Deutschen Welle. Nun klingen Karies nicht plötzlich wie Trio, aber ein bisschen Fehlfarben zu "Monarchie und Alltag"-Zeiten könnte man hier und da schon hineinintepretieren, oder man denkt an die leider aufgelösten Herpes als jüngeres Beispiel, die tanzbaren Post-Punk mit der Hamburger Schule paarten und dabei auch den ein oder anderen NDW-Einfluss zuließen. Allerdings spielen die Stuttgarter ihr Ding deutlich unaufgeregter runter. Am Anfang steht dabei das trabende "Holly", das seine Protagonistin zum Morgengrauen in den Wald verfrachtet und Geisterchöre die Stimmung ins Mysteriöse verschieben lässt. Die Lyrics fallen lakonisch aus, viel wird hier nicht geredet, aber wenn der Beat am Ende ins Galopp umschwingt, verheißt das nichts Gutes. Entsprechend eine ganze Spur flotter schließt "Pebbo" an, das ebenso wortkarg und ohne klassischen Refrain auskommt, aber das müdeste Gebein in rhythmisches Wippen versetzen dürfte.
Ungleich depressiver zeigt sich die großartige erste Single "Nebenstraßen", die dem stoischen Schlagzeug eine wild oszillierende sowie eine melodiewiederholende Elektrische zur Seite stellt, um den Aufbau zur Songmitte zerfallen zu lassen, dem Gesang Raum zu geben, sich dann doch wieder aufzurichten und in einem schallenden Riff zu kulminieren, das schließlich schlicht unbesänftigt ausfadet. Ebenso aus der Tiefe kommend und wuchtig: der Titeltrack "Alice", der die besungene Dame in eine Schleife steckt, nachdem eine ätherische Gitarre und die kräftige Bassdrum in einem einmütigen Intro zunächst die Atmosphäre dafür kreieren, dann aber von einer elektronischen Welle unterspült werden. Herzschlagend düster präsentiert sich "1987", das zwischendurch einen swingenden Akustikbass eingliedert und dann zwischen Handclaps und Vocoder fast zerbirst, um letztlich doch wieder den roten Faden des Songs aufzugreifen. Auch dieser Titel: grandios.
Es gibt sowieso keine Ausfälle auf "Alice", weil Karies ihr (neues) Ding rücksichtslos durchziehen. Höchstens "Haverie" verlässt ein wenig das Schema, weil die Gitarren hier zumindest einmal so deftig schellen dürfen wie auf den beiden Vorgängeralben. Auch erwähnenswert: "Projekt Aufgabe", das in einem wahnsinnigen Instrumental zwischen repetitiven Drones, Handclaps und klingelnden Stahlsaiten wunderbar tumultartig zu Ende geht. Das Tanzbein schwingen kann man wohl am ehesten zu "Reden über was", "Altar" hingegen lässt sich vom Dream-Pop in mystische Welten entführen und begeht zu sprichwörtlichem Heulen und Zähneklappern ein Requiem – sicher auch mit einer Portion Kirchenkritik im Gepäck, die spätestens in der Zeile "berühre mich nicht an Stellen, die mir nicht gehören" offenbar wird.
Bei aller Neudefinierung des Sounds bleiben Melancholie und Verzweiflung das stilprägende Gefühl des Vierers. Poppiger ja, fröhlicher nein. Trotzdem: "Sylvia" vom Debüt "Seid umschlungen Millionen" etwa fände hier keinen Platz mehr, der Sound ist lange nicht mehr so rotzig, die Songstrukturen deutlich weniger streitlustig. Alles hat seine Ordnung, das blindwütige Gitarrengemetzel ist sauberen Leads gewichen, jede Steigerung in Tempo und Intensität wird behutsam aufgerichtet oder abgebaut, dafür hat auch Produzent Max Rieger gesorgt. Karies wollen nicht mehr mit Lautstärke überzeugen, dafür aber mit stoischer, musikalischer wie textlicher Penetranz. Die Wiederholung wird zu einem der wichtigsten Stilmittel auf "Alice". Statt auszurasten, lässt das Quartett einfach nicht locker, bis man schluckt, was einem serviert wird, solange bis man es endlich richtig lecker findet. Insofern doch kein Problem mit der Verlässlichkeit, denn eine schlechte Platte von Karies gab es bisher noch nicht. "Alice" aber ist mit Sicherheit die beste.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Holly
- Nebenstraßen
- Alice
- Altar
Tracklist
- Holly
- Pebbo
- Nebenstraßen
- Alice
- 1987
- Haverie
- Bruch
- Projekt Aufgabe
- Moleskin
- Reden über was
- Altar
- Ansichten
Im Forum kommentieren
MopedTobias (Marvin)
2018-10-22 10:25:04
Hab die ersten zwei Alben letztens wieder rausgekramt, was ich nicht unbedingt hätte tun sollen... Damit entwickelt sich die hier doch zu einer größeren Enttäuschung als gedacht.
Karies-Boy
2018-10-22 08:50:58
Finde Platte ja auch toll :-)
Pascal
2018-10-22 01:36:44
Mir haben gerade dieses gezielte Weg- bzw. Auslassen, die Wiederholungen statt der Ausführung und damit einhergehend die Verkürzung imponiert. Das Album unerwartet diszipliniert. Mich haben sie damit gekriegt.
MopedTobias (Marvin)
2018-10-16 19:06:09
Ja, die Kompaktheit stört mich auch etwas, sie waren immer so gut, wenn sie ausgeufert sind.
Karies-Boy
2018-10-16 18:10:54
Also ich finde das neue Album toll, höre es gerade zum dritten Mal (8 passt, vielleicht sogar etwas mehr). Trotzdem würde ich mir wünschen, dass das nächste etwas mehr knallt.
Einziger Kritikpunkt: Ich würde mir oftmals wünschen, dass die Stücke länger sind. Manchmal denkt man so nach weniger als 3 min "Schade, das war es?"
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