Alligatoah - Schlaftabletten, Rotwein V
Trailerpark / Groove AttackVÖ: 14.09.2018
Der ineffiziente Streber
"He's doing too much", heißt es im Englischen, wenn einer mit übermäßigem Aufwand bestenfalls mäßige Resultate erzielt – was in der Regel damit einhergeht, dass derjenige sich noch tüchtig zum Horst macht. Ganz klar kann man Lukas Strobel, besser bekannt als Alligatoah, das vorwerfen. Er rappt in zehntausend verschiedenen Stimmlagen, teils in Doubletime, er singt mit Pathos, geizt nicht mit Neologismen und Wortspielen, die Musik kann sich derweil nicht zwischen HipHop, Nu Metal, Jazz, Pop, Hard Rock, Polka und tschetschenischer Folklore entscheiden. Allein dem Aufwand nach müsste das eine 10/10 sein. Die gab und gibt es für ihn jedoch nicht. Auch nicht für "Schlaftabletten, Rotwein V", den neuesten Teil seiner Mixtape-Reihe, der jedoch nicht ohne Grund als reguläres neues Album promotet wird. Vom seltsam depressiven Titel sollte sich niemand irritieren lassen. Ein Unterschied zu Platten wie "Triebwerke" und "Musik ist keine Lösung" ist quasi nicht vorhanden, Alligatoah schlüpft in diverse Rollen, selbst der zum Standard gewordene, quer über die Tracklist gestreute Dreiteiler ist am Start.
"Die grüne Regenrinne" heißt jener auf "Schlaftabletten, Rotwein V" und unterhält nicht nur durch die atemlos vorgebrachte Skizzierung einer gedächtnisverlorenen Nacht, sondern hat auch im Gegensatz zu allen anderen Songs keinen Refrain zu bieten. Die bohren sich anderweitig unerbittlich und unaufhaltsam ins Gehirn, ob man möchte oder nicht. Während die Strophen Alligatoah Rap-Skills zelebrieren, raspelt sein Gesangsorgan über die Hook stets eine Extraschicht Käse. Dieser Gegensatz findet sich in fast jedem Song und ist wohl seit Jahren das, was bei seiner Musik über Sympathie oder Ablehnung entscheidet. "Schlaftabletten, Rotwein V" macht in dieser Hinsicht nichts anders. Jeder Song zuppelt am Hosenbein wie ein quengeliges Kind, schreit nach Aufmerksamkeit. Das kann unterhalten und ermüden und hängt stark davon ab, ob sein Ansatz zum gerade ausgewählten Thema trifft oder nicht.
Langsam, aber sicher schleichen sich allerdings mehr Selbstplagiate ein. "Ein Problem mit Alkohol" wärmt textlich wenig originell Suchtprobleme auf und vergisst die Pointe. "Beine brechen" käut die Eifersuchtsgedanken von "Fick ihn doch" wieder, ohne ansatzweise dessen Punch zu erreichen. "Komm, wir gehen den Gebirgsbach runter" zitiert quasi fast direkt seinen größten Hit "Willst Du" – die Idee, eine Vorliebe für ältere Frauen zu erklären, hatten Die Ärzte mit "Omaboy" aber schon 1993. Und die theatralisch gesungene Hook von "Freie Liebe" – "Ich mag es, wenn Du aus dem Mund nach fremdem Sperma riechst" – muss man auch erst mal aushalten. In der Mehrheit zünden die Stücke jedoch. Allen voran "Hass", das Limp Bizkit noch einmal zeigt, wie das mit der aufrichtigen Wut vor schäumenden Gitarrenriffs wirklich geht. Kein Wunder bei dem Thema. "Hass ist ein starkes Wort, doch es passt / Fährt im Wagen vor mir ein Spast!" Sehr stimmig gerät zudem "Terrorangst", die Abrechnung mit der allgemeinen Angstmacherei der Medien. "Hier liegen die Nerven blank / Ich mach' den Fernseher an und hab Terrorangst", schmettert Alligatoah, nur um sich später ein "Doppelkinn als Enthauptungsschutz" zuzulegen.
Die Apathie der Mitte bekommt ebenfalls ihr Fett weg: "Radikalisiert in einem Kompromisstencamp / Ich bin so hart in der Mitte, ich trag XXM." "Meinungsfrei" macht sich stark für die neue Gattung "Mittelrock". Ausgeglichene Geschlechterrollen in "Meine Hoe", Reisen in "Wie zuhause", Werbewahn im schmissigen "Wo kann man das kaufen" – Alligatoah hat für jedes Alltagsthema Lines. Im Prinzip das, was auch Deichkind tun, nur mit anderen Mitteln. "I need a face" ist dann nur die konsequente Bestätigung, dass Strobel zahlreiche Visagen in der Hinterhand hat, was den Stempel "Theater-Rap" fast schon rechtfertigt. "Ich hab' mehr Gesichter als Cartoon-Gestalten haben / Ein Gesicht für die Oxford-Studie / Eins für die Ostblock-Hure / Eins für Deine gut gemeinten Kochversuche." Dieser Rollenwechsel bleibt sein starkes Markenzeichen auch auf "Schlaftabletten, Rotwein V". Und wenn er damit übers Ziel hinausschießt, gehört das mit dazu. Es dürfte ihn deshalb freuen, wenn man wieder konstatieren muss: "He's doing too much."
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hass
- Die grüne Regenrinne II
- Terrorangst
- Wo kann man das kaufen
Tracklist
- Alli-Alligatoah
- Ein Problem mit Alkohol
- Hass
- I need a face
- Die grüne Regenrinne I
- Beine brechen
- Füttern verboten
- Meinungsfrei
- Freie Liebe
- Die grüne Regenrinne II
- Terrorangst
- So gut wie neu
- Meine Hoe
- Wo kann man das kaufen
- Die grüne Regenrinne III
- Wie zuhause
Im Forum kommentieren
Miki
2019-05-28 18:16:58
"Also im Ernst.. manchmal frag ich mich wie oft sich Menschen, die ne Platte rezensieren müssen, diese wohl anhören."
Noch schlimmer als, wenn der Rezensent "Komm wir gehen den Gebirgsbach runter" als "Selbstplagiat" bezeichnet. Das ist eine Anspielung auf einen anderen (hier: eigenen) Song und im Rap allgegenwärtig.
CS
2018-10-17 00:03:03
Habe die Platte inzwischen zig Mal gehört und bin (wieder einmal) süchtig geworden.
Es ist schon was dran, dass Alligatoah wenig an seiner "Alligatoah-Formel" schraubt – aber es ist eine enorm stimmige Formel!
Persönliche (absolute) Favoriten: Meinungsfrei, I Need A Face, Ein Problem mit Alkohol, Meine Hoe
@Felix H: Danke für Deine Antwort. Da inzwischen auf Streaming-Diensten verfügbar, konnte ich mir inzwischen auch hier eine eigene Meinung bilden. Einiges davon gefällt, hätte für sich genommen aber nicht den Kauf einer Deluxe-Version oder -Box gerechtfertigt. Props aber für Alligatoahs Auswahl der Songs.
Ruth
2018-09-18 16:15:23
Also im Ernst.. manchmal frag ich mich wie oft sich Menschen, die ne Platte rezensieren müssen, diese wohl anhören. Ich weiss ja, dass Interpretation von Lyrics immer ne große Spannbreite haben ... aber bei "Beinebrechen" muss ich klar sagen : Thema verfehlt ! Das hat null mit "Fi*k ihn doch" gemein oder mit irgendwelchen Eifersuchtsthemen. Hier gehts um die Kritik an der schnelllebigen Gesellschaft die nur vor Smartphone hocken und ihren Terminkalender als non-plus-ultra Alltagsmittel ansehen und somit liebgewonnene Menschen verprellen. Zeit ist Geld. Da haben reale soziale Kontakte nichts mehr verloren.. ist hier Thema des Songs.
Affengitarre
2018-09-13 17:20:38
Das Cover von "Duality" hab ich mir auch mal angehört, aber sagt mir auch gar nicht zu. Stimme ist vielleicht einfach nicht meins.
Felix H
2018-09-13 15:08:37
Hattest Du auch Gelegenheit, in das Cover-Album reinzuhören?
Leider nein, das wurde nicht vorab mitgeliefert.
Mal gucken, ob es im Nachgang bei den Streamingdiensten landet.
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