Ben Howard - Noonday dream
Island / UniversalVÖ: 01.06.2018
Voll deep
Mut zur Ehrlichkeit: Als Ben Howard Ende der Nullerjahre erstmals musikalisch auf sich aufmerksam zu machen versuchte, bekam das kaum jemand mit. Und als er es 2011 mit seiner EP "Old pine", spätestens aber mit Veröffentlichung seines umjubelten und mehrfach prämierten Debüts "Every kingdom" schaffte, war auch dieser Durchbruch nicht gänzlich vorurteilsbefreit – da war er, Ben Howard, der surfende Sonnyboy, der mit Gitarre und sanftem Gesang bewaffnet Jagd auf unschuldige Fan-Herzen machte. Howard wusste um dieses Bild in vielen Köpfen. Es dürfte einer der Gründe sein, warum der Brite ungern über Privates spricht, noch weniger aber um die Bedeutung seiner Songs, warum er in einem Interview mal entnervt aufgestanden und gegangen ist, warum sein zweites Album "I forget where we were" so offensichtlich ambitionierter und experimenteller klang. Als die Verkaufszahlen jenes Zweitlings trotz höherer Chartspositionierungen deutlich hinter denen des Vorgängers blieben, nahm der junge Mann sich eine Auszeit und hängte die Musikerkarriere kurzzeitig sogar komplett an den berüchtigen Nagel.
In Nicaragua, dem Herzen Zentralamerikas, ließ sich Howard schließlich nieder, schlürfte den einen oder anderen Nica Libre – einen dort berühmten Cocktail, der hauptsächlich aus Cola und Rum besteht –, und wandte sich seiner neuen Leidenschaft zu: Inspiriert von der einheimlichen Lyrik wollte Howard selbst Poet werden. Als dieses Vorhaben auch nicht so recht glücken wollte, reiste er eine Weile weiter, irgendwann ging es zurück ins heimische Devon, wo er kurzerhand den Garten seines Hauses in ein riesiges, stellenweise gut eineinhalb Meter tiefes Loch verwandelte. Doch auch dort, wortwörtlich am Boden, konnte er nicht entdecken, was er wirklich wollte. Gemeinsam mit seiner Band nahm er anschließend ein komplettes Album auf, zwölf Songs, die er beim genaueren Hinhören auf der Autofahrt nach Hause nicht mehr mochte und verwarf. Nur zwei blieben übrig, die es auf das nun endlich vorliegende dritte Werk "Noonday dream" geschafft haben. So schließt sich der Kreis: Einer dieser beiden Songs heißt, wie passend, "Nica Libres at dusk".
Um das klarzustellen: "Noonday dream", das satte vier Jahre nach dem 2014er-Album "I forget where we were" erscheint, ist nicht der wiederholte Versuch irgendeines dahergelaufenen Kerls, der sich selbst etwas beweisen will, sondern das klare Statement eines mittlerweile 31-jährigen Mannes, der gelernt hat, dass er genau das nicht mehr tun muss. So zeugt es nicht etwa von Mut, als Opener das bereits genannte und mit sechseinhalb Minuten Spielzeit nicht gerade schlanke "Nica Libres at dusk" zu nehmen, sondern von Selbstbewusstsein: Entspannt und gelassen klingt Howard hier, die Instrumentierung ist breit und doch nicht aufmüpfig. Beinahe ambientlastig tönt der Song, der Gesang ist hier und da gar mehr Erzählstimme. In eine ähnliche Kerbe schlägt "A boat to an island on the wall", dessen erste Hälfte verträumt-schwelgerisch am Hafen spazieren geht und dessen zweite Hälfte auf dem Boot in einem kleinen Donnerwetter gegen die Wellen ankämpft, stoisch, beherzt, klatschnass und doch siegessicher.
Noch etwas verspielter gibt sich "Someone in the doorway", der zweite Song, der Howards Ausmist-Aktion überlebt hat, und nicht nur mit einer geradezu herrlichen Road-Movie-Dynamik ausgestattet wurde, sondern noch dazu mit einer breiten Palette an Streich- und Blasinstrumenten, die für ein rundum sattes Hörerlebnis sorgen. Im Kontrast dazu steht das Duo "A boat to an island pt. 2 / Agatha's song", das reduzierter und melancholischer fast so wirkt, als würde es leicht schunkelnd nur zu sich selbst reden und singen, stets ein bisschen verhuscht und doch in seiner Emotionalität klar verständlich. Ergänzend gesellt sich dazu das darauffolgende "There's your man", das den eben noch in der Ecke stehenden Trauerkloß packt, mit ausgeklügelter Schlagzeug-Rhythmik aus der Reserve lockt und zum ekstatischen Tanzen einlädt, bis die Sonne aufgeht.
Das Geheimnis von "Noonday dream" ist seine Zusammensetzung. Gleichermaßen von den Stärken seiner beiden Vorgänger lernend, hört man ihm sowohl seine jugendliche Frische als auch seinen mit der Zeit gewachsenen Anspruch an. Und auch in lyrischer Hinsicht weiß Howard hier zu überzeugen, wenn er etwa im atmosphärisch dichten "Towing the line" eine offenbar nicht mehr ganz standfeste Beziehung auseinandernimmt: "Tired of adventures, so my mind wanders / Picking at the table to cure the wrong / Like a bird in a world with no trees / You were hung up there in your disbelief / I know I'm a hard rock to drag around." Spätestens aber, wenn er im abschließenden "Murmurations" voller Hoffnung und Tatendrang ein letztes Mal nach vorne prischt, bleibt einem als Hörer nur noch eines zu sagen: ein kraftvolles, lautes, vollkommen ernstgemeintes Dankeschön an jegliche höheren Mächte oder einfach direkt an den Musikgott. Dafür, dass Ben Howard nicht als Poet in Nicaragua gelandet ist. Oder gar eineinhalb Meter tief im Garten seines Hauses.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nica Libres at dusk
- Towing the line
- Someone in the doorway
- Murmurations
Tracklist
- Nica Libres at dusk
- Towing the line
- A boat to an island on the wall
- What the moon does
- Someone in the doorway
- All down the mines (Interlude)
- The defeat
- A boat to an island pt. 2 / Agatha's song
- There's your man
- Murmurations
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KingOfCarrotFlowers
2021-01-24 16:06:38
Ich glaube, da kommt bald schon wieder etwas neues :)
Gomes21
2020-07-03 11:24:15
I Forget Where We Were finde ich auch immer noch sehr gut, zumindest musikalisch. Textlich finde ich die Platte eher prätentiös, das ist auf Noonday Dream mMn besser gelungen. Die erste Platte lasse ich mal ganz außen vor, die gibt mir überhaupt nichts, danach ist Ben Howard für mich immer ein starker Songwriter, der sein Potential nie im Gesamten ausschöpft.
Was er Live Auffährt ist auch aller ehren Wert, aber für mich riecht auch das nach verzetteln in die berühmt-berüchtigte Suche nach dem goldenen Ton. Wohlklang macht Musik nicht immer besser :-)
Das klingt jetzt negativer als es gemeint ist. Habe nach der kurzen Diskussion hier durchaus mal wieder Lust auf Noonday Dream, darum hab ich ja auch ins Topic geschaut :-)
Kai
2020-07-02 14:24:45
für mich ist die noonday dream als album ein klein wenig vor der I forget. Letztere hat aber die "hits"
Felix H
2020-07-02 14:06:56
Für mich sind die beiden letzten Alben eine 9/10, sehe "I Forget..." aber vorne. Einfach großartiger Künstler.
maxlivno
2020-07-02 13:58:50
Ich habe das Album vor ein paar Tagen mal wieder gehört und es steht für mich weiterhin bei einer 9/10. Ein absolut würdiger Nachfolger.
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