Lucrecia Dalt - Anticlines
RVNG Intl. / CargoVÖ: 04.05.2018
Herz aus Gestein
Reden wir über ein mythisches Amazonas-Ungeheuer, das die inneren Organe seiner Opfer zu Brei verarbeitet, bevor es sie einsaugt. Oder darüber, dass es sich wie eine teerartige Masse in den Lungen anfühlen muss, wenn man am äußersten Rand der Heliosphäre versuchen würde zu atmen. Oder über rätselhafte Spuren in der Antarktis, von denen man mutmaßt, dass Besucher vom Mars sie hinterlassen haben. Alles zu kompliziert? Wie wäre es zunächst mit ein wenig Musik? Zum Beispiel mit dem sechsten Album der Wahlberlinerin Lucrecia Dalt? Das Besondere daran ist unter anderem, dass die aus Kolumbien stammende Geotechnikerin und Bauingenieurin ihre Arbeit in elektronische Sound-Experimente überführt, dabei Verwerfungen im Erdreich in Relation zu denjenigen des menschlichen Geistes setzt und auch die eingangs erwähnten Dinge zur Sprache kommen. Auch zu kompliziert? Da müssen wir jetzt trotzdem durch. Schließlich lohnt es sich.
Zugegeben, man kann nicht gerade behaupten, "Anticlines" sei eine einfache Platte – was sie aber nicht weniger reizvoll macht. Vor allem wie sich "Edge", das Stück über besagtes Regenwald-Monster, zu einsam tupfendem Rhythmus von digitalen Insekten umschwirren lässt und der unerbittlich sanfte Sprechgesang dabei wirkt, als sei Laurie Anderson unter die Kannibalen gegangen, ist – anders als Dalts geotechnische Bodenstudien – eine enorm außerirdische Angelegenheit. Entbeinung für Fortgeschrittene auf Modular-Synthesizer und schmorenden Moog-Filtern – da fiepen Schaltkreise und Nerven schon zu Beginn SOS, wobei die Südamerikanerin immer wieder Androiden-Chöre und wohlige Bass-Massagen in die akustischen Gesteinsschichten einlagert. Die entrückten Folk-Momente ihres 2013er Longplayers "Syzygy" sind bei dieser bis ins Letzte stilisierten Klanginstallation nur mehr eine ferne Erinnerung, während Dalt praktisch dauernd neben dem Hörer steht und ihm von Herzen mysteriöse Dinge ins Ohr flüstert.
So auch in der aufs Allernötigste reduzierten Single "Tar", deren absonderlicher Groove fragmentierte Cumbia-Rhythmen unter Reinraumbedingungen nachbaut. Auch wegen des geisterhaft kokelnden Synthie-Themas der am ehesten als Song ausformulierte Track – und gar nicht mal so uneingängig. Anders als "Errors of skin", wo sich zischelnde Percussions und querschießende Dissonanzen gegenseitig die Eingeweide kraulen, oder der hektisch blinkende Störgeräusch-Extremfall "Analogue mountains", den die stoischen Vocal-Mantras nur mit Mühe zu besänftigen vermögen. Kategorien wie Ambient, Drone oder Post-Industrial können dieser Musik folglich kaum gerecht werden, und auch die kurz aufflackernde technoide Sequenz von "Atmospheres touch" ist bald aus den sich knirschend verschiebenden Wölbungen von "Anticlines" herausgewaschen. Fordernd? Durchaus. Anstrengend? Mitunter. Ein Album zum Weglaufen? Keineswegs. Vielmehr eins, in dem man versinken kann wie in Treibsand. Strampeln zwecklos.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Edge
- Tar
- Errors of skin
- Analogue mountains
Tracklist
- Edge
- Altra
- Tar
- Atmospheres touch
- Errors of skin
- Analogue mountains
- Axis excess
- Indifferent universe
- Concentric nothings
- Helio Tanz
- Glass brain
- Liminalidad
- Eclipsed subject
- Antiform
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Arbeiter
2018-05-03 21:16:39
Ich hoffe mal, dass ich die Scheibe morgen abend schon auflegen und mir in Gänze zu Gemüte führen kann.
Armin
2018-05-03 20:57:02- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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