Okkervil River - In the rainbow rain
ATO / [PIAS] Cooperative / Rough TradeVÖ: 27.04.2018
Wieder geöffnet
Will Sheff ist wieder da. Nicht, dass er je wirklich weg gewesen wäre, erscheint "In the rainbow rain" doch gerade mal gut anderthalb Jahre nach dem jüngsten Okkervil-River-Album. Aber eben jener Vorgänger "Away" suggerierte nicht nur mit seinem Titel eine Form distanzierter Entrücktheit, er bildete sie auch klanglich ab. Wo zarte, hochsensible Konstruktionen noch für das vielleicht nicht beste, aber auf jeden Fall subtilste und am komplexesten arrangierte Werk der Band sorgten, ist der Ansatz dieses Mal genau konträr. Die Songs sollten unmittelbarer und weniger verkopft als zuvor sein, sich nicht mehr in selbstreflexiver Einsamkeit suhlen, sondern Gemeinschaft und Lebensfreude zelebrieren. Sie entstanden im Dezember 2016, direkt nach der "Away"-Tour, auf der Sheff nach einigen Aussagen so viel Spaß wie seit über zehn Jahren nicht mehr hatte, und nach der Wahl eines gewissen Golf und Twitter liebenden US-Präsidenten, doch "In the rainbow rain" kanalisiert seinen Protest nicht durch Trauer und Wut, sondern durch einen hoffnungsvollen, oft auch spirituell angehauchten Optimismus.
Man muss sich aber überhaupt keine Sorgen machen. Wer Okkervil River kennt, weiß, dass sie auch – manche würden sagen, gerade – in ihren lauteren Momenten eine emotionale Wirkungskraft wie kaum eine zweite Band entwickeln können. Und so laut, wie es das vorab veröffentlichte Synth-Rock-Brett "Pulled up the ribbon" angedeutet hat, ist das neunte Studioalbum des in Texas gegründeten Kollektivs ohnehin nicht. Opener "Famous tracheotomies" beginnt nur mit leisen Pianoanschlägen und einem Sheff, der mit einer seiner unverwechselbar grandiosen Melodieführungen von seinem Luftröhrenschnitt als Kleinkind und den damit verbundenen Sorgen und Ängsten seiner Eltern singt. Von Strophe zu Strophe kommen mehr Schichten aus Gitarren, Keyboards und Chören dazu, während er das Narrativ von sich weg lenkt und stattdessen die Geschichten anderer berühmter Persönlichkeiten erzählt, die die titelgebende Prozedur über sich ergehen lassen mussten. Das ist einerseits ungemein bewegend, macht mit seinem luftigen Sound und Sheffs augenzwinkerndem Vortrag aber auch klar, dass Okkervil River nicht mehr ihr Heil nur in der intimen Zurückgezogenheit suchen, sondern auch mal wieder Spaß machen wollen.
Dazu passt auch der Entstehungskontext: Von den meisten seiner Bandkollegen verlassen erschuf Sheff "Away" in völliger Isolation, doch für "In the rainbow rain" holte er sein Tour-Line-up schon beim Songwriting ins Boot. Der unverkennbare Spaß, den die fünf am gemeinsamen Musizieren hatten, zeigt sich am deutlichsten in "The dream and the light", nicht weniger als einer der euphorischsten Songs der Bandgeschichte überhaupt und das auch schon ohne sein unvermittelt am Ende hereinbrechendes, exzessives Saxophon-Solo. Das Quintett steht sich dabei nie auf den Füßen, sondern fügt Okkervil River in ihrem 20. Jahr nach Gründung Facetten hinzu, die man so noch nie von ihnen gehört hat. Ein noch prägnanterer Einsatz von Synthies als auf "The silver gymnasium", Drumcomputer und Gospel-Chöre mögen auf dem Papier irritierend klingen, doch fügen sich diese neuen Elemente wundervoll ins altbekannte Soundbild des von Streichern und Bläsern akzentuierten Folk-Rocks ein. Der unfassbar detailliert arrangierte "Family song" schindet da am meisten Eindruck – ziemlich genau so hätte wohl "Away" geklungen, hätte sich Sheff noch zusätzlichen Input von The-War-On-Drugs-Kopf Adam Granduciel geholt.
Es passt auch einfach so gut, wie die fast schon an Air erinnernden Soundscapes die sphärische Schwebe des "Shelter song" umgarnen und damit die optimale Trägerfläche für dessen tröstende Botschaft von spiritueller Verbundenheit darstellen. Dass sich Okkervil River auf für sie neuem Terrain bewegen, heißt ja auch nicht, dass sie überhaupt nicht mehr aufs alte zurückkehren: In "Don't move back to LA", einem Midtempo-Folk-Schunkler mit 60er-Dylan-Vibe, lamentiert Sheff mit gewohntem Humor den Wegzug seiner Freunde aus der Wahlheimat New York, während das beschwingte Country-Kleinod "External actor" sogar das Debütalbum "Don't fall in love with everyone you see" ins Gedächtnis ruft. In einer Diskographie, die fast ausschließlich aus hochkarätigen Diamanten besteht, ist "In the rainbow rain" vielleicht nicht der am hellsten funkelnde, doch kann es sich trotzdem ganz mühelos bei den anderen einreihen. Weil die Band in Sachen ausgefeilter Arrangements im Indie-Kosmos der letzten 20 Jahre noch immer ihresgleichen sucht, weil sie sich neuen Einflüssen öffnen kann, ohne an eigener Identität einzubüßen, und weil sie unter Beweis stellt, dass eine optimistische, freudenstiftende Herangehensweise nicht zwingend mit einem Verlust emotionaler Intensität einhergeht. Will Sheff ist wieder da, wieder ganz nah am Herz des Hörers und, vielleicht am wichtigsten: nicht mehr allein.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Famous tracheotomies
- The dream and the light
- Family song
- Don't move back to LA
Tracklist
- Famous tracheotomies
- The dream and the light
- Love somebody
- Family song
- Pulled up the ribbon
- Don't move back to LA
- Shelter song
- How it is
- External actor
- Human being song
Im Forum kommentieren
MopedTobias (Marvin)
2020-04-08 00:58:30
Ich mags immer noch sehr, aber würde spontan sagen, dass es eher nichts für dich ist :) Synthies, generell 80er-Arrangements... aber versuch's ruhig, vielleicht zündet ja doch was.
The MACHINA of God
2020-04-08 00:18:00
Hab das Album tatsächlich nie gehört. Werd ich mal nachholen.
MopedTobias (Marvin)
2018-10-20 22:23:49
Achsoo, sag doch gleich AOR. Ja, da steckt viel von drin.
hallogallo
2018-10-20 19:26:59
Eine geschmeidige und vordergründig unbekümmerte Spielart sündhaft teuer produzierter melodiöser Rockmusik.
https://en.wikipedia.org/wiki/Yacht_rock
Voyage 34
2018-10-20 18:48:00
Für mich auch unter den besten des Jahres. Richtig gutes Ding!
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