Calexico - The thread that keeps us

City Slang / Universal
VÖ: 26.01.2018
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Die Wärme der neuen Biederkeit

Das Ende der Welt – wo liegt das eigentlich? Die Eiswüsten des Nord- oder Südpols wären als Fixpunkte der Erdachse die physikalisch wohl naheliegendste Antwort, man könnte damit aber auch metaphorisch auf einen Ort totaler Abgeschiedenheit verweisen, egal, ob dieser irgendwo im äquatorialen Dschungel oder im nördlichen Münsterland zwischen Saerbeck und Emsdetten liegt. Wo auch immer es ist, Calexicos Joey Burns singt darüber zur Eröffnung von "The thread that keeps us" und sucht nach einem Rückzugsort für sich und sein geliebtes lyrisches Du vor dem Trubel einer immer zerrissener werdenden Welt. Vielleicht meint er damit auch das abgelegene kalifornische Studio, in dem er und seine Band ihr mittlerweile neuntes Studioalbum aufgenommen haben, doch wer jetzt ein in der Isolation geborenes Werk tiefster Intimität erwartet, wird überrascht davon sein, wie laut und kantig der Sound der Wüstensöhne aus Tucson, Arizona hier stellenweise klingt.

Zugegeben, die Kritiker, die Calexico spätestens seit "Algiers" Selbstkopie und eine angezogene Handbremse unterstellen, werden auch im Angesicht von "The thread that keeps us" nicht verstummen. Wie auf jedem Album seit "Garden ruin" gießen Burns, John Convertino und Konsorten ihre Virtuosität in konventionelle, bekömmliche Songstrukturen, doch genau das ist es ja auch, was die Band so überragend gut und zur absoluten Königsklasse des modernen amerikanischen Indie-Rock macht. Calexico probieren unglaublich viel: Es gibt Ausflüge in Noise, Post-Rock, Blues, Folk und Pop, dazu von Streichern getragene Wilco-Balladen, Reggae- und Funk-Rhythmen und natürlich die typischen Latin- und Cumbia-Elemente. Diese enorme Stilvielfalt lassen Calexico jedoch nie ausfasern, überführen sie stattdessen in einen jederzeit geordneten und kohärenten Albumfluss. Je nach Erwartungshaltung kann man das durchaus bieder nennen, man kann aber auch zugestehen, dass diese Verbindung genreübergreifender Kreativität mit unglaublich fokussiertem Songwriting noch immer ihresgleichen sucht.

Die jazzige Verspieltheit eines "Feast of wire" war zwar nicht minder großartig, doch wenn besagtes "End of the world with you", ein gleichzeitig hochmelodisches wie kraftvolles Pop-Stück, die hell strahlende Wüstensonne direkt ins Herz lässt, vermisst man sie kein Stück. Ein Abkippen in eine zu selbstgefällige Harmlosigkeit verhindert das unter der Oberfläche donnernde Gitarren-Gewitter, dem im rhythmisch vertrackten "Voices in the field" sogar noch mehr Raum gegeben wird. Ohnehin rückt der elektrische Sechs-Saiter hier generell etwas stärker als zuvor in den Vordergrund, etwa im düsteren "Bridge to nowhere" oder im komplett unerwartet harschen Gepolter von "Dead in the water". Weil Calexico aber wie immer gar keinen Bock auf eine allzu simple Charakterisierung haben, stellen sie ihrem Lärm fast schon aus Trotz ein paar ihrer poppigsten Songs überhaupt entgegen. Wer bei Arcade Fires jüngstem Output schon lauthals "Fernsehgarten!" schrie, wird bei "Under the wheels" wohl entsetzt seine CD aus dem Fenster schmeißen wollen, alle anderen dürfen sich auf den bisher größten Ohrwurm des Kollektivs freuen, der in seinen dreieinhalb Minuten auch noch irgendwie Drum-Computer, Mariachi-Bläser und Sprechgesang unterbringt.

Was dieser reichhaltige musikalische Eintopf unterschiedlichster Stile und Stimmungen sonst noch zu bieten hat? Unter anderem das herzzerreißende "The town and Miss Lorraine", in dessen Qualitätsklasse sich ein Jeff Tweedy seit "Sky blue sky" leider nicht mehr bewegt hat. Oder auch "Another space", das mit seinen an 70er-Funk erinnernden Keys den wohl rastlosesten Punkt des Albums darstellt und am Ende eine einzelne Trompete komplett die Oberhand gewinnen lässt. Nie wird "The thread that keeps us" dabei zu sehr Nummernrevue, nie schallt dem Hörer ein "Sieh her, was wir alles können!" entgegen, stattdessen wird er immer mit einbezogen, berührt oder mitgenommen. Am intensivsten geschieht das im prä-finalen "Thrown to the wild", das sich vom zerbrechlichen Folk-Stück zur jeden noch so kleinsten Raum erfüllenden Hymne entwickelt. Nein, diese Band wird sich in diesem Leben wohl nicht mehr neu erfinden, aber bei diesem konstant meisterhaften Niveau von so warmen, stimmungsvollen und immer spielfreudigen Songs ist das auch herzlich egal. Mit Euch lässt es sich auch bis ans Ende der Welt gehen, Calexico. Oder gerne auch nach Emsdetten.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • End of the world with you
  • Voices in the field
  • The town and Miss Lorraine
  • Another space
  • Thrown to the wild

Tracklist

  1. End of the world with you
  2. Voices in the field
  3. Bridge to nowhere
  4. Spinball
  5. Under the wheels
  6. The town and Miss Lorraine
  7. Flores y tamales
  8. Another space
  9. Unconditional waltz
  10. Girl in the forrest
  11. Eyes wide awake
  12. Dead in the water
  13. Shortboard
  14. Thrown to the wild
  15. Music box
Gesamtspielzeit: 44:50 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2024-09-06 13:04:25

Wann sind Wertungden denn zu nerdig? Was bedeutet das in dem Kontext? Und wieso ergibt es keinen Sinn?

kingsuede

2024-09-06 12:59:22

Ich finde Ratings auf rym immer zu nerdig, bzw. auch zu abwertend, das ergibt oft überhaupt keinen Sinn außer Distinktionszwang.

The MACHINA of God

2024-09-03 14:51:05

Was ist denn "so etwas"? Und was heisst schon "ernstzunehmen"? Ist halt eine (Massen-)Wertungsseite. Geht ja nicht darum, seine Wertung daran anzupassen, sondern das Stimmungsbild eines Albums zu sehen... und das scheint hier negativer als bei ihren anderen Alben.

kingsuede

2024-09-03 14:42:25

Rym ist aber bei so etwas auch nicht wirklich ernst zu nehmen.

The MACHINA of God

2024-09-03 13:51:44

Auf rym ist das Album mit 3.01 erecht abgeschlagen das schwächste der "regulären" Alben. Fand das immer etwas komisch, da hier soviele gute Lieder drauf sind. Kann sein, dass manche Leute ihnen sowas wie "Another time" und "Under the wheels" übelnehmen? Nun ja.

PS: "Eyes wide awake" weiterhin der Übresong für mich hier.

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