Benjamin Clementine - I tell a fly

Caroline / Universal
VÖ: 29.09.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Durch Brüche

Vorhersehbar ist nur das Unvorhersehbare – und das Spiel beherrscht Benjamin Clementine zur Genüge. Zwar mangelte es seinem hervorragenden Debütalbum "At least for now" nicht an Herausforderungen und genreübergreifenden Stücken, die den Hörer auch in die Oper führten, aber letztlich war es prädestiniert für die paradoxe Bühne: Ein Mann spricht in Rückblenden über das Leben auf der Straße und sitzt nun im klassischen Konzertsaal barfuß am Flügel. Er singt kunstvolle Songs, und jene wie "London", die auch im Radio liefen oder in Form von "I won't complain" Werbung für Burberry untermalten. Wiederholung? 2017 quasi ausgeschlossen. Clementine ist ein Künstler wider die Genügsamkeit und sein "I tell a fly" ruft: Nehmt! Fresst! Versteht! Folgt mir und genießt!

Der 29-jährige Brite mit ghanaischen Wurzeln beschreibt sich selbst als Wanderer. Stets gut gekleidet und umschlungen von langen Mänteln hat das bei ihm weniger mit Rucksack-Tourismus oder Bagpack-Abenteuern zu tun. Clementine, der Rastlose, wohnt einfach gerne zeitweise woanders, will dort Inspiration finden in Plätzen, Menschen und dem Unbehagen der Fremde, weil er dadurch sein Leben und die Gegenwart besser reflektieren kann – und schließlich Baumaterial für seine Songs erhält. Für "I tell a fly" führt das zu fortwährenden Aufeinandertreffen mehrdimensionaler Ebenen. "God save the jungle" thematisiert die provisorische Zeltstadt für Flüchtlinge in Calais, aber genauso Clementines Werdegang und "Phantom of Aleppoville" stellt Kinder im Krieg gemobbten Schülern gegenüber und webt so ein Ungleichnis sinnloser Gewalt.

Clementine weiß um Tyrannei und Ausgrenzungserfahrungen, war der Hüne mit der Turmfrisur nach eigenen Aussagen doch schon immer wahrgenommen worden als dieser Eigenartige, der Eigenbrötler und Einzelgänger. Bei seiner Ankunft in New York bescheinigte ihm das Visum gar ein "Alien with extraordinary abilities" zu sein. Und das belegt Alien "Ben" sogleich, schreibt zu metronomisch getaktetem Beat und allerlei überirdisch klingenden Sequenzertönen über seinen Tankstop im Big Apple, lässt die besten Wünsche da, düst aber direkt weiter, denn "back home in Jupiter things are getting harder." Für sein nächstes Album, so der Plan, zieht es ihn übrigens nach Russland.

Zum Auftakt seines zweiten Werks "I tell a fly" schwirren Fragmente wie "C'est la vie" und "Esperanza" durch den verhallten Nebel der "Farewell sonata". Die ist dann für zwei Minuten genau das: eine Sonate von Clementines omnipräsenter klassischer Seite. Nach zwei Minuten schießt ein mit Effekten befeuertes Cembalo los, sogar ein Beat blitzt auf und Clementine ruft von seinem Podium ins Rund: "Standing here and mingling with birds that cannot fly and fishes that cannot swim." Am Ende klimpert das Piano wieder im Sonaten-Duktus, als wäre nichts gewesen.

Die Tieranalogien indes tauchen unter anderem auch im Breakbeat von "One awkward fish" auf sowie bei der partiell beschwingten Walz "Ports of Europe": "Don't know why, said the wandering swine." Und die musikalischen Brüche des Openers sind nur ein Vorspiel dessen, was noch kommt. Clementine hat einen Narren gefressen am Cembalo und seit seiner Begegnung mit dem japanischen Elektronik-Künstler Isao Tomita spielt er ohne schlechtes Gewissen alte Synthesizer. Ergänzt um theatralischen Background-Gesang und dem Piano als zweitem Leitkegel entwickelt sich aus dieser Allianz das hervorragende "Better sorry than a safe", für dessen Gedankenkreis aus Flucht, Abschied sowie trügerischer Sicherheit erneut Exempel aus dem Tierreich herhalten: "Behind every lion awaits a lazy dragonfly."

Es folgt das komplett furiose "Phantom of Aleppoville", das bei seiner Zusammenführung militärischer Drums, Cembalo, wohligen Harmonien am Klavier und Clementines vokalistischen Dreiklang – geisterhaft extrovertierte Aufschreie, "normale" Gesangslinie und angsteinflößende Drohungen – jegliche strukturelle Songkonventionen über Bord wirft. Das beste Stück unter all diesen avantgardistischen Umarmungen aber bleibt die – verglichen damit – schlichte Pianoballade "Quintessence". "In depths of my own despair, love is all I need to give / Although it clearly hasn't been dear to me." La grande finale? Beim Briten nicht. Das letzte Wort gehört der Vorstellungskraft, lautet "dreamer". Benjamin Clementine gibt dem Theater ein neues Zuhause. Er nennt es nur Musik.

(Stephan Müller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Better sorry than a safe
  • Phantom of Aleppoville
  • Quintessence

Tracklist

  1. Farewell sonata
  2. God save the jungle
  3. Better sorry than a safe
  4. Phantom of Aleppoville
  5. Paris cor blimey
  6. Jupiter
  7. Ode from Joyce
  8. One awkward fish
  9. By the ports of Europe
  10. Quintessence
  11. Ave dreamer
Gesamtspielzeit: 45:02 min

Im Forum kommentieren

Kai

2021-07-17 11:35:57

Wohl war.
Ich hab ihn einmal Live im Stadtgarten in Köln gesehen (also damals noch im kleinen Ramen) und es war richtig, richtig gut.

Ralph mit F

2021-07-17 11:34:27

Beide seiner Alben haben jeden Bump verdient!

Kai

2021-07-17 11:29:50

Damit weniger Schott im Forum oben steht (Amigos und Co.) hier ein Bump für ein sehr gutes Album.

captain kidd

2017-11-24 19:27:39

Ist noch immer interessant das Album. Obwohl ich derzeit eigentlich nur den Zimmermann als Jesus und den ECM-Katalog auf Amazon Music höre...

Felix H

2017-11-22 11:07:14

*Self-Reminder setz*

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