Propagandhi - Victory lap

Epitaph / Indigo
VÖ: 29.09.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Anti-manifesto

Wie die Zeit Auftreten und Einstellungen verändern kann, das zeigten Pennywise, Good Riddance und Face To Face zuletzt bei ihrer gemeinsamen Europa-Tour: Musikalisch einerseits ein feucht-fröhliches Event unter Freunden, mit all den Lieblingssongs von einst. Textzeilen? Bands und Publikum beherrschen sie wie im Schlaf. Finger und Fäuste? Schneller oben, als das Bier auf Ex einst unten. Pogo? Alte Knochen knacken beim Stagediving. Politische Haltung? Leider Fehlanzeige. Abseits ihrer Songs sparten sich Good Riddance und Pennywise, einst Vertreter des Anti-Establishment, trotz eines latent rassistischen Immobilienhändlers im weißen Haus und einem demaskiert auftrenden Ku-Klux-Clan auf den Straßen jegliche Aussage zur politischen Lage. Steht "Fuck authority" heute nur noch für ein Business, das auf Nostalgie und Erinnerungen setzt und ähnlich kühl kalkuliert wirkt wie der Dow-Jones-Index? Schwierig. Das Alter der Musiker wird ihre Haltung nicht komplett aufgefressen haben. Doch gerade in Zeiten des aufkeimenden Neo-Nationalismus in ihrem Land und anderswo ist Schweigen und Hinnehmen sicher kein Rezept.

Zum Glück gilt das nicht für alle. "There's nothing new for you to learn? / Okay sit back and relax / Watch it all burn?!" skandieren Propagandhi zum Auftakt ihrer siebten Platte "Victory lap", getrieben vom eigenen Stakkato-Punk und benötigen gerade mal ein paar Sekunden und dazu ein schwertscharfes Metal-Riff um wachzurütteln. Der Vierer aus Winnipeg ist eine Instanz im Kampf gegen Intoleranz, Rassismus, Turbo-Kapitalismus und für die bedingungslose Gleichstellung der Geschlechter. Über 20 Jahre nach ihrem richtungsweisenden Manifest "Less talk, more rock" brennen Propagandhi keinen Deut weniger dafür, der Welt mitzuteilen, dass sie sich in eine Richtung entwickelt, der man nur mit Unverständnis, Fassungslosigkeit und Wut begegnen kann. Angetrieben vom Zorn, aber auch vom jederzeit vernehmbaren Spaß an der Sache entfacht "Victory lap" eine Wucht, die sich mit dem 08/15-Songbaukasten der meisten FatWreck- und Epitaph-Kollegen nicht würde realisieren lassen. Eine Wucht, die nicht zuallererst von Lautstärke und Geschwindigkeit zehrt, sondern sich aus der Summe an durchaus ungewöhnlichen Elementen entwickelt, die die Band um Frontmann Chris Hannah und Schlagzeuger Jord Samolesky punktgenau zusammenzimmert.

Die Pulsader mehr auf Anschlag als in "Comply/Resist"? Schwer möglich. Das Stück startet bedächtig, ballt beide Fäuste bis zum Blutstau und rast ab Sekunde 90 in Transrapid-Geschwindigkeit zwischen den Stationen Hardcore-Punk und Metal hin und her. Einen Halt zwischendrin? Bekommt nur der, der sich noch zurecht findet, wenn die Doublebass-Drum einsetzt. Wie viel Varianz trotzdem im Songwriting dieser Band steckt, zeigt "Cop just out of frame": Zunächst steht hier Hannahs melodischer Gesang im Mittelpunkt, und der Mann kann singen! Beflügelt sucht das Stück sich seinen Weg zur melodischen Punkrock-Ekstase, muss bis zur Regie des hymnischen Refrains aber lange kämpfen, da sich ein übles Riff-Gewitter in den Weg stellt. Freunde von Hochgeschwindigkeits-Tracks, deren Fliehkraft Haken und Ösen kaum zulässt und Fäuste in die Deckenregion bugsiert, kommen bei "Letters to a young anus" und "Failed imagineer" voll auf ihre Kosten.

Propagandhis Wurzeln liegen nach wie vor im melodischen Hardcore, doch trägt "Victory lap" die Metal-Elemente ebenso offen auf der Brust wie schon der Vorgänger "Failed states". Und so jagen sich Hannah und Sulynn Hago, ihres Zeichens neue weibliche Fachkraft an der Gitarre, gegenseitig von einem Riffing zum nächsten, Überholungen nicht ausgeschlossen. Nicht überholt, aber verändert hat Chris Hannah auch die Rolle als zweifacher Vater. Die Hoffnung, dass die Welt im Sinne des Nachwuchses noch nicht verloren ist, hallt dem leicht zynischen "Adventures in Zoochoosis" nach. A propos Hoffnung: Da ist ja auch noch Todd Kowalski, der zu weit mehr als außerordentlichen Bass-Lines fähig ist, dessen Welt jüngst mit dem Tod seines Vaters im Jahr 2016 kollabierte. Mit "Nigredo" und "When all your fears collide" stammen die beiden düsteren Brocken des Albums folglich aus Kowalskis Feder. Eines famosen Albums, das sich bei noch stärkerer zweiter Hälfte mit dem 2009er-Meilenstein "Supporting caste" auf Augenhöhe bewegen würde.

Der vermutliche beste Track beschließt die A-Seite. Mit tiefgestimmten Saiten und Metal-Riffing führt "Lower order (A good laugh)" zunächst auf die falscheste Fährte, die das Album hergibt. Alsbald jedoch flirren die Gitarren in bester Emo-Tonlage, als wäre in Winnipeg der ehemalige Bandkollege John K. Samson mal eben ins Studio reingestapft und als hätten der John und der Chris, wie einst zu "Less talk, more rock"-Zeiten, etwas ausgeheckt. Warum dieses kleine, melancholische Stück Harmonie inmitten des blitz- und sturmreichen Punk-Gewitter so gut ist? Fragen Sie doch mal ihr breites Grinsen, oder die aufgerichteten Härchen an beiden Armen. Aber bloß nicht Ihre diffusen Ängste. Oder irgendwelche anderen, behaupteten Punkbands – egal ob alt und erfahren, oder jung und wild. Die sind nämlich beinahe überflüssig, solange es Propagandhi gibt.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Comply/Resist
  • Cop just out of frame
  • Letters to a young anus
  • Lower order (A good laugh)

Tracklist

  1. Victory lap
  2. Comply/Resist
  3. Cop just out of frame
  4. When all your fears collide
  5. Letters to a young anus
  6. Lower order (A good laugh)
  7. Failed imagineer
  8. Call before you dig
  9. Nigredo
  10. In flagrante delicto
  11. Tartuffe
  12. Adventures in Zoochosis
Gesamtspielzeit: 37:10 min

Im Forum kommentieren

kiste

2022-07-27 13:11:10

Durch Zufall nach einem HotWaterMusic Video auf Youtube gestolpert und fetzte mir sofort. Schön mit Ecken und Kanten. Tolles Album!

Hoschi

2022-06-01 12:38:14

Heute mal wieder angehört und für besser als zu Release empfunden.
Gerade weil sie öfter mit der Dynamik spielen und (wieder) mehr auf die Bremse treten gefällt es mir eine Spur besser als der Vorgänger.
Die erste Hälfte von Failed States ist mir persönlich zu viel Metal. Da hätte ich mir mehr Songs wie Devils Creek oder DARK matters gewünscht.

Stand heute:
LTMR 7/10
TETA 7,5/10
Supporting caste 9/10
PCL -/10 da nicht gehört
Failed States 7,5/10
Victory lap 8,5/10

terranova

2021-08-31 22:03:33

stimmt und trotz der verschiedenen tempi (zb nach dem geraden und wuchtigen "letters to ayoung anus" das locker flockige lower order (a good laugh) wirkt das album wie aus einem guss.

wohl eines der besten punkrock alben des 3. jahrtausends :)
9/10

fakeboy

2021-08-31 21:52:00

Bin grad erstaunt, dass ich zu diesem Album nichts geschrieben hatte. Fantastisches Album, wieder eine Spur melodiöser als es Failed States war. Sowas wie Lower Order (A Good Laugh) oder Nigredo hat dem eh schon beindruckenden Oeuvre von Propagandhi nochmals eine neue Note hinzugefügt. 9/10

terranova

2021-08-31 20:37:34

was ne wucht die scheibe doch hat.

wer mal was zum durchblasen braucht

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