Brand New - Science fiction

Procrastinate! Music Traitors
VÖ: 17.08.2017
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Zieh Dich an mir runter

Arme U2. Vor ein paar Jahren noch mit der Aufzwingung ihres Albums "Songs of innocence" in aller Herren iTunes-Mediatheken grandios gescheitert, hatten sie sich diesmal für die Promo etwas Unaufdringlicheres ausgedacht: eine kleine Hauspost. Am 21. August 2017, pünktlich zur Sonnenfinsternis in den USA, wurden mysteriöse Briefe an einige Fans versendet. Und jetzt? Überholt worden. Nun sind Brand New nicht ganz so groß wie U2. Aber dafür genau nur vier Tage früher dran gewesen mit ihrer Überraschung. Mehr als bloß ein Fetzen Papier lag da in der Post einiger mutiger Vorbesteller. Und zwar das ganze neue Album. Unangekündigt, unverhofft. Mittlerweile auch streambar und hier bestellbar. Wir möchten uns an dieser Stelle nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass "Science fiction" ein deutlich tolleres und tiefergehendes Paket ist, als selbst das ganze kommende U2-Album es sein könnte.

Brand News letztes Album "Daisy" ist bereits satte acht Jahre her, seitdem war die Band zwar aktiv, veröffentlichte aufpolierte Demos, aber in gewisser Weise doch unterm Radar unterwegs. Frontmann und Mastermind Jesse Laceys andauernder Kampf gegen Depressionen war ein wesentlicher Faktor für die Verzögerungen des Albums. Die Schreibblockaden, die Therapieversuche, die Rückfälle – all das verarbeitet er auf "Science fiction" in oft beängstigender Erlebbarkeit. "I got a positive message / Sometimes I can't get it out", heißt es im stürmischen "Can't get it out". Die Dualität zwischen Hoffnung und Resignation zeigt sich auch im Klangbild. Wie schon auf dem übergroßen "The devil and God are raging inside me" schwanken Brand New erneut von zart berührenden akustischen Kleinoden zu aggressiven Ungetümen der Dämonenexorzierung. Wenn auch diesmal mit deutlich größerem Fokus auf der sanften Seite der Mitte.

Das Feuermotiv, welches auf "Daisy" in den Texten noch prominent auftrat, greift lediglich der unheilvoll lauernde Opener "Lit me up" auf: "I burned like a witch in Puritan town." Es sind reinigende Flammen, Lacey fasst die Wirkung seiner Therapie in pathetische Worte. Anderweitig dominiert als Element das Wasser in seiner gefährlichen, tödlichen Form. Das mit einem göttlichen Gitarrenklang ausgestattete "Same logic / Teeth" beschreibt sehr plastisch die Schattenseiten und gipfelt trocken in der Feststellung "At the bottom of the ocean / Fish won't judge you by your faults." "Hold me down / Underwater / And don't let me up again", fleht Lacey in "No control", dessen Musik als Kontrast überaus poppig ausfällt. Nicht nur hier verknüpft die Band den eigentlichen Kern des Songs mit einem atmosphärischen Outro. Spoken-Word-Passagen und kurze Überleitungen zwischen den Stücken machen die gesamte Platte zu einem einnehmenden Gesamtwerk.

Eine lakonische Kritik der allumfassenden Technologisierung wie das druckvolle und zugleich melancholische "Out of mana" geht auf "Science fiction" demnach locker als leichtgewichtiges Thema durch. Das ganz dezent mit der Klampfe Western-Klänge anspielende "Desert" wagt zumindest ebenfalls den Blick nach außen und gibt religiösen Fundamentalisten ihr Fett weg. "The path we walk is narrow and straight / No son of mine will wander astray / Abomination." In der zweiten Hälfte bewegen sich Brand New stellenweise etwas mehr vom Sound der letzten Alben weg. Man würde vergeblich im Œuvre graben, wenn man einen ähnlichen Track wie "451" finden wollte, der in seinem Shuffle-Rhythmus fast schon den Swing atmet und akustische gegen elektrische Gitarre ins Duell schickt. Was nicht bedeutet, dass es in den Lyrics fröhlich zugehen würde. Schon der Titel referenziert den Film "Fahrenheit 451", die Zahl steht für die Temperatur, bei welcher Bücher anfangen zu brennen.

Im grandiosen, verhallten "137", das den leeren Raum im Sound gekonnt nutzt, kommt gar post-apokalyptische Stimmung auf. "Hold my hand, let's turn to ash / I'll see you on the other side." Auch diese Ziffern sind mit Bedeutung aufgeladen: Sie gehören zum radioaktiven Cäsium, das durch die erste nukleare Bombenexplosion in die Welt gebracht wurde. Es ist nicht einmal der Stimmungstiefpunkt. Denn so hoffnungsvoll "Lit me up" das Album eröffnet, so schonunglos resignierend schleppt sich der Closer "Batter up" über acht Minuten hin. "It's never going to stop / Batter up / Give me your best shot." Lacey kapituliert vor sich und dem Leben, und die Band wirft sich in Schale für eine Elegie, die in Sachen Traurigkeit ihresgleichen sucht. Mehrfach hat die Band bereits angedeutet, dass "Science fiction" ihr letztes Album sein könnte. Bei so langer vorhergehender Pause – macht es da überhaupt einen Unterschied? Natürlich würde die Band fehlen, gar keine Frage. Aber wenn es so sein sollte, wären sie mit einem absoluten Highlight abgetreten.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lit me up
  • Same logic / Teeth
  • 137
  • Batter up

Tracklist

  1. Lit me up
  2. Can't get it out
  3. Waste
  4. Could never be Heaven
  5. Same logic / Teeth
  6. 137
  7. Out of mana
  8. In the water
  9. Desert
  10. No control
  11. 451
  12. Batter up
Gesamtspielzeit: 61:28 min

Im Forum kommentieren

boneless

2022-07-16 18:27:56

Die geht in Ordnung, ja. Klang ist ziemlich gut, gibt nur hier und da paar Clicks und Pops. Einzig In The Water auf der C-Seite versinkt ab der Hälfte total im Distortion-Matsch. Allerdings scheint es auch Exemplare dieser Version zu geben, auf der die ganze C-Seite wie Mist klingt. Da hab ich wohl noch Glück gehabt, da es nur die Hälfte dieses Songs betrifft.

Robert G. Blume

2022-07-15 19:29:13

Ist das Vinyl der Special Edition denn in Ordnung? Hatte die UK Domestic Pressing und die hatte so viele gravierende Pressfehler, dass ich sie wieder zurückgeben musste.
Und ja, ich liebe dieses Album auch über alles.

derdiedas

2022-07-10 10:52:42

Ich meine, sie hatten schon vor dem ganzen Skandal um Lacey angedeutet, dass sie sich auflösen wollten. Es gab z.B. diese "Brand New 2000-2018" T-Shirts oder so

Aber kann natürlich sein, dass sie trotzdem zurückgekommen wären. Bie Bandpause der Kollegen von Thrice hat ja auch nicht sonderlich lange gedauert

Autotomate

2022-07-09 23:13:36

Hab's vorhin, als ich den Thread sah, auch endlich mal wieder angemacht und kann mich euch nur anschließen, großartiges Teil weiterhin. Gerade läuft "451", eins der vielen Highlights des Albums...

Wäre schon interessant gewesen, was da noch von der Band gekommen wäre – wenn da noch was gekommen wäre. Obwohl... so richtig offiziell aufgelöst haben sie sich ja nicht, oder? Und zwischen Daisy und diesem Album hier lagen auch 8 Jahre...

Affengitarre

2022-07-09 21:37:02

Jap, fantastisches Ding und wohl auf einem Level mit "The Devil and God...". Letzteres hat vielleicht die größeren Highlights, aber das Album hier ist für mich noch konsistenter. Die "Daisy" war auch verdammt gut.

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