Boris - Dear

Sargent House / Cargo
VÖ: 14.07.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Lärmprozess

Eine Band, die ein Album namens "Amplifier worship" aufgenommen hat, muss klingen wie Boris. Seit über 20 Jahren testet das japanische Trio die Grenzen von Verstärkern und Trommelfellen. Dass in einer so langen Zeit auch Phasen der Orientierungslosigkeit vorkommen, ist normal. Dass Boris diese Phasen nicht durch kreative Pausen, sondern konstante Produktivität überwinden, hingegen nicht. Ihr neues Album "Dear" ist gleichzeitig eine Heraufbeschwörung alter Tage und ein musikalischer Neustart. Vorbei sind die Zeiten der doch recht ziellosen Experimente von "Noise" und der insgesamt enttäuschenden Kollaborationsprojekte, die das Terzett beispielsweise mit Merzbow zusammebrachte. Wichtig aber ist: Es dröhnt und knallt endlich wieder im Hause Boris. Regler nach rechts, es ist Zeit für Lärm.

So beginnt das 21. Album der Japaner auch standesgemäß mit zwei klassischen Drones. In nervenzerreißender Langsamkeit suppt akustische Lava aus den Lautsprechern. Tiefstgestimmte Saiteninstrumente treffen auf gutturales Grollen, während im Hintergrund Feedbackschwaden vorbeiziehen. Sinnbildlich für die wiedergefundene Identität ist auch der Titeltrack: Atsuo schreit sich die Seele aus dem Leib, als hätte er gerade den Teufel persönlich getroffen. Auch hier überschreitet die BPM-Zahl nur mit Ach und Krach die 20. Doch jeder Akkordanschlag ist ein Wirkungstreffer. Man kann diesen wunderbaren Krach gar nicht laut genug hören.

Am stärksten sind Boris im Jahr 2017 dann, wenn sich ihr unwiderstehlicher Sound mit ebensolchen Melodien paart. "Beyond" ist beispielsweise eine astreine Noise-Hymne, überraschende Dur-Akkorde inklusive. Ähnlich umwerfend ist der zwischen Lethargie und Katharsis pendelnde Trip "Memento mori". Während in den Strophen lediglich Schlagzeug und Bass gestreichelt werden, ist der Refrain ein Fest für alle Sinne. Und schließlich, endlich lassen sie alle Contenance fahren: "Distopia - vanishing point" braucht eine Weile, bis es in die Gänge kommt. Doch das Gitarrensolo, das auf einen minutenlangen Build-Up folgt, richtet sämtliche Haare auf dem Körper neu aus.

Zwar erreichen einige der Tracks auf "Dear" nicht ganz diese Höhen, wirkliche Störenfriede finden sich jedoch auch nicht auf dem Album. Der Wille zu mehr Kohärenz tut Boris hörbar gut. Sogar ein waschechtes Grunge-Riff hat sich auf "Dear" verirrt: "Absolutego" klingt stellenweise wie die Fortsetzung von Nirvanas "Scentless apprentice", was nun wirklich nicht die schlechteste Referenz ist, wenn es um infernalisches Gedresche geht. Jedoch wissen Boris genau, dass Lautstärke kein Allheilmittel ist. Gerade die Kontrastierung durch harmonische Verschnaufpausen verleiht den Exzessen erst dramatisches Gewicht. Denn Boris sind beides: Lärm- und lernfähig.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Beyond
  • Memento mori
  • Distopia - vanishing point

Tracklist

  1. D.O.W.N. - domination of waiting noise
  2. Deadsong
  3. Absolutego
  4. Beyond
  5. Kagero
  6. Biotope
  7. The power
  8. Memento mori
  9. Distopia - vanishing point
  10. Dear
Gesamtspielzeit: 69:22 min

Im Forum kommentieren

Clown_im_OP

2017-07-25 21:00:32

"Einigermaßen poliert" verglichen mit allem was da so davor kam natürlich ;) Ich kann mich schon erinnern, dass Pink so den "das ist jetzt ihr Hochglanz-Album"-Stempel aufgedrückt bekommen hat, als es rausgekommen ist - lächerlich natürlich, wenn man es mit dem meisten was danach kam vergleicht. Was überhaupt nicht bedeutet, dass ich den Sound nicht sehr mag, und Dear zum Beispiel hätte der schon gut gestanden.
Bei Heavy Rocks (wenn du die erste meinst) hat sich das schon angebahnt, klar. Für mich haben sie auf Feedbacker, Akuma No Uta, Amplifier Worship so den perfekten Sound gehabt.

boneless

2017-07-25 20:48:09

Sogar das einigermaßen polierte Pink klingt da noch fieser.

Wie bitte? Also wer Pink vorwirft, poliert zu klingen, der scheint echt das falsche Album gehört zu haben. Sicher, es rumpelt nicht so extrem wie auf Akuma No Uta, aber dennoch knallt das an allen Ecken und Enden. Wenn man über glatten Sound reden will, sollte man eher bei Heavy Rocks anfangen...

Clown_im_OP

2017-07-25 13:13:31

Gefällt immer besser, und ich seh's mittlerweile auch (locker) als ihr bestes seit mindestens Smile. Wenn nur nicht die Produktion so zahnlos wäre, aber das Problem haben die ja schon länger. Sogar das einigermaßen polierte Pink klingt da noch fieser.

Christopher

2017-07-17 16:24:36

Ich fand das Merzbow-Projekt ziemlich schwach. Da wäre mehr drin gewesen.

Clown_im_OP

2017-07-17 14:42:06

Die erfinden sich halt auch nicht mehr neu. Warum auch. Dear ist ziemlicher Fanservice, und lange nicht so ein durchwachsenes Potpourri wie befürchtet. Eigentlich gar nicht. Fast schon erleichternd für den "Old-School-Fan". Viel Drone, knallt gelegentlich wenn's sein muss (da ginge aber auch mehr, Kilmister von ihrem Anime-Soundtrack da hätte zB gut drauf gepasst), der Epos scheint vom Fließband zu kommen. Geht schon gut rein, und mir ist dronige Komfortzone allemal lieber als die letzten Jahre der Zerfahrenheit. Würde Dear auch als finales Album akzeptieren.

@Rezi
...und der insgesamt enttäuschenden Kollaborationsprojekte, die das Terzett beispielsweise mit Merzbow zusammebrachte.

Das würde mich ja doch mal interessieren. Die Kollaborationen mit Merzbow (Gensho) und Endon (Eros) waren doch astrein, und dann war da noch...?

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