Jesu/Sun Kil Moon - 30 seconds to the decline of Planet Earth

Caldo Verde / H'Art
VÖ: 05.05.2017
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Zeichen/Wunder

Wenn es in der folgenden Rezension wieder überwiegend um Mark Kozelek geht, dann direkt eine Entschuldigung im Voraus. Auf der anderen Seite: Das hat sich der Sun-Kil-Moon-Kopf zusammen mit Justin Broadrick alias Jesu nicht anders ausgesucht. Ihre zweite Kollaboration "30 seconds to the decline of Planet Earth" könnte stilistisch locker von Kozelek solo stammen. Doch Broadricks Präsenz ist vermutlich doch nicht ganz spurlos vorübergegangen, wenn man bemerkt, wie gut diese Platte geworden ist. Denn was passiert, wenn man Mark Kozelek einfach mal machen lässt, worauf er Bock hat, konnte man auf den halbkatastrophalen Alben "Universal themes" und "Common as light and love are red valleys of blood" beobachten. Wie ein ADHS-geplagtes Kind ignorierte Kozelek dort jegliche durchgehenden Strukturen und Grooves, ziellos und endlos waren die Stücke, die unabsichtlich die Banalität im Tagebuchstil seiner Lyrics entlarvten. Und das auf insgesamt geschlagenen 200 Minuten.

Die verzerrten Gitarren, die manche Songs der ersten Zusammenarbeit soundtechnisch noch von den jüngsten Sun-Kil-Moon-Alben abhoben, sind auf "30 seconds to the decline of Planet Earth" komplett verschwunden. Stattdessen fokussieren Broadrick und Kozelek die rhythmusbetonten elektronischeren Aspekte des Vorgängers. Die Höhe des Jesu-Anteils ist allerdings unklarer denn je, da die Instrumentals meist repetitiv durchgezogen werden und in der Regel nur wenige Sekunden Nettospielzeit pro Song haben. Aber anscheinend konnte Broadrick durchsetzen, dass die Stücke eine konstante Atmosphäre erhalten, weniger Haken schlagen. Es ist eine goldrichtige Entscheidung. Das unaufdringlich pumpende "Wheat bread" hat beispielsweise die schwere Aufgabe, ganze 17 Minuten zu schultern – und meistert sie mit Bravour. Plötzlich fügen sich zur hypnotischen Soundschleife Kozeleks Stream-of-Consciousness-Texte als unterstützendes Element nahtlos ein. Man läuft ob der transzendentalen Wirkung glatt Gefahr, die grandios selbstironische Schlusspointe zu verpassen.

Dabei macht Kozelek am Mikro nichts anders. Die Vocals, die er seit "Among the leaves" hauptsächlich pflegt – irgendwo zwischen dem Star-Wars-Review-Typen und kirchlichem Liturgiegesang –, prägen auch "30 seconds to the decline of Planet Earth". Auch die Sammlung der Dinner-Berichte bekommt nun wieder Zuwachs. Aber zum einen passt hier die musikalische Begleitung viel besser zu seinem Stil. Zum anderen fährt Kozelek nach einer unleidlichen Phase seine Garstigkeit weiter zurück, auch wenn er sich manche Spitzen nach wie vor nicht verkneift. Ärgerlich deshalb, dass ausgerechnet "He's bad" – schon lange im Voraus ausgekoppelt – für die meiste Diskussion sorgt. Kozelek hasst Michael Jackson, hält ihn für einen perversen Kinderschänder und lässt im Refrain wissen: "He's bad / And he's dead / And I'm glad." Die Meinung sei ihm gegönnt. Weil er aber mit einem Enthusiamus sprechsingt, als würde er gerade aus dem Telefonbuch vorlesen, geht die Wut des Textes letztendlich komplett verloren, das schöne Instrumental wird verschenkt. So riecht "He's bad" nach billiger Aufmerksamheits-Hascherei – etwas, das "30 seconds to the decline of Planet Earth" nicht nötig hat.

Das mit einer wahnsinnig hübschen Melodie ausgestattete "The greatest conversation ever in the history of the universe" ist weitaus weniger ironisch, als es sein Titel vermuten lässt. Mit Trump hat sich Kozelek ein ungleich weicheres Ziel ausgesucht, geht dabei aber glücklicherweise auch mehr in die Tiefe und sucht die Schuld auch bei sich und der Nation. "And if you think you took no part in his place in this world / Then you're fired! / Because you've not been paying attention / And your apprenticeship expired!" Das einsam vor sich hin perlende "Bombs" ist ein ehrlicher, lakonischer Tourbericht und nicht das einzige Mal, dass Kozelek die dräuende 50 in den Klammern hinter seinem Namen thematisiert. Und 13 weitere Minuten vergehen wie im Flug. Er fragt sogar: "Maybe you're thinking this song is way too long?" Gar nicht. Plötzlich scheint wieder klar zu sein, wie lang ein Stück sein sollte und wie lang nicht. Dadurch ist "30 seconds to the decline of Planet Earth" das erste Kozelek-Album seit "Benji", das sich nicht in etwa doppelt so lang anfühlt, wie es tatsächlich ist.

A propos: Das wunderschöne Finale "A dream of winter" ergeht sich in genau der Art von Melancholie, die man lange bei Sun Kil Moon vermisst hat. Hinzu kommt, dass tatsächlich einmal vor der Fünf-Minuten-Grenze die Schere angesetzt wurde. Es tut dem Song gut, der auch auf "Benji" einen würdigen Platz gefunden hätte. Und wenn davor "Hello Chicago" am Ende strukturell doch auseinanderfällt, dann nur, weil es der emotionale Moment rechtfertigt – nach dem Beklagen des Todes von Leonard Cohen und einer erneuten Widmung an Nick Caves verunglückten Sohn. Was zuvor zu Schwächen führte, stellt Kozelek nun in den Dienst der Songs und findet nach "Jesu/Sun Kil Moon", das noch initiale Unstimmigkeiten enthielt, endgültig einen gemeinsamen Nenner mit Broadrick. Und schafft es, aus erstaunlich kurzweiligen 77 Minuten gestärkt und fast sympathisch hervorzugehen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Wheat bread
  • The greatest conversation ever in the history of the universe
  • A dream of winter

Tracklist

  1. You are me and I am you
  2. Wheat bread
  3. Needles Disney
  4. The greatest conversation ever in the history of the universe
  5. He's bad
  6. Bombs
  7. Twenty something
  8. Hello Chicago
  9. A dream of winter
Gesamtspielzeit: 77:12 min

Im Forum kommentieren

Achim3000

2019-03-06 19:35:12

"He's bad" ist so aktuell wie nie zuvor. Ich weiß schon, warum ich den Song damals so abgefeiert habe.

@BRRR

2018-03-22 07:42:58

https://i.scdn.co/image/bd2ddd9c3084796f6589541fc39c182fb4d7ea9a

brrr

2017-06-03 00:11:24

grausam. das grenzt schon an musikalischer folter. wer lässt sowas bitte freiwillig über sich ergehen? von jesu hätte ich erwartet, dass sie aus ihren fehlern gelernt hätten aber nein. "he's bad" ist wohl das schlimmste etwas der letzten 20 jahre. genauso unheimlich wie das privatleben von jackson selbst.

was is nur mit dem typen los?! was soll dieses rumgenöle? entweder kommt er zur besinnung oder er dreht komplett durch. ich befürchte letzteres... denn irgendwie kann man ihn sich schon als serienkiller in 10-15 jahren vorstellen. mit dahmer-tattoo auf der linken und ramirez-tattoo auf der rechten arschbacke.

Felix H

2017-05-08 09:39:07

Dazu habe ich auf Consequenceofsound eine gute und differenzierte Darstellung gelesen.

"He's Bad" ist aber zum Glück gar nicht repräsentativ.

James

2017-05-05 18:20:50

Keine Ahnung, ob die Kinderschänder-Vorwürfe aus Böswilligkeit gestreut wurden, um Michael Jackson zu beschädigen oder ob etwas dran ist. Aber wenn Kozelek da nicht grade wirkliches Hintergrundwissen hat, ist es nicht gerade genial, da so mit Dreck um sich zu schmeißen.

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