Nicolas Jaar - Sirens
Other People / Rough TradeVÖ: 14.10.2016
Im Sturz durch Raum und Zeit
Das Cover von Nicolas Jaars zweitem Album "Sirens" wäre an sich gar nicht so auffällig, wäre da nicht dieser eine Satz, auf drei Zeilen aufgeteilt, der scheinbar zufällig genau dort platziert wurde: "YA DIJIMOS NO PERO EL SI ESTA EN TODO" – weiße Großbuchstaben, eigentlich nur eine Randerscheinung, und doch so markant hervorstechend, dass man sie kaum übersehen kann. Grob übersetzt bedeuten sie "We already said no but the yes is in everything." Wir haben bereits nein gesagt, aber das Ja ist überall. Es könnte kaum zutreffender sein für das gesamte Schaffen des 26-jährigen Künstlers, dem es bereits seit Veröffentlichung seiner ersten EP "The student" von 2008 wie kaum einem anderen gelingt, sich seiner Hörerschaft sowohl zu verweigern als sie auch wieder in seinen Bann zu ziehen. Zuckerbrot und Peitsche in Musikform.
Auch Jaars Debüt "Space is only noise" war ein solch besonderer Fall. Der New Yorker verstand es, verschiedene vermeintlich unzusammenhängende Geräusche zu einem Ganzen zu verbinden und damit, dem Albumtitel fast schon widersprechend, ganze Räume mit Wohlklang zu füllen. "Sirens" ist die Weiterführung dessen und doch auch ein ganz eigenständiges Werk. Es ist chaotischer als sein Vorgänger, verwirrender, beinahe wütender: Ein gewollt politisch ausgerichtetes Manifest, das sich an der derzeitigen Lage von Jaars US-amerikanischer Heimat, aber auch am allgemeinen, stellenweise geradezu angsteinflößenden Weltgeschehen, orientiert. Gerade mal sechs Stücke braucht Jaar, um seine Botschaft zu verkünden und seinen Hörer auf eine weitere Irrfahrt durch Raum und Zeit zu schicken.
Oft erinnert "Sirens" dabei an den fantastischen "BBC Essential mix": Spielerisch verknüpft Jaar verschiedene Stile, wechselt von Laut zu Leise, zurück zu Laut, baut kleine, private Tonaufnahmen mit seinem Vater ein und bremst einen gerade noch durchstartenden Dance-Track so rigoros aus, dass ein kleiner Unfall auf der Tanzfläche kaum verwundern würde. Düster und melancholisch baut sich etwa "The governor" immer wieder auf, steigert seinen Rhythmus und verfängt sich in stetig unbequemer werdenden Störgeräuschen – bis ein verzerrtes Free-Jazz-Saxofon sich durchsetzt, den Kick beendet und sich schlangenartig ins Gehör säuselt. Am Ende bleibt ein ambientlastiger Unterton und die Gewissheit, dass das hier erst der Anfang ist.
Schon der epische Opener "Killing time", mit über elf Minuten das längste Stück des Albums, stürzt sich sofort in tiefe, politische Gewässer – der Songtitel wird zum Wortspiel für Polizeibrutalität und die erbarmungslos verstreichende Zeit, in der man etwas dagegen hätte unternehmen können. Mit den Zeilen "I think we're just out of time / Said the officer to the kid / Ahmed was almost 15 / And handcuffed / He was just building his own sense of time" streift Jaar zudem die Geschichte des damals 14-jährigen Ahmed Mohamed, der 2015 verhaftet wurde, nachdem er eine selbstgebaute Digitaluhr mit in die Schule brachte, die für eine Bombe gehalten wurde. Dank Falsettgesang über einer sonoren Pianomelodie, immer wieder durchzogen von diversen elektronischen Klangelementen, bleibt man hier stets zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse stecken.
Bloß nicht zu lange in einer Position verharren. "If every now and then you feel like you've seen it all / Then be sure to remember there's always two sides to a wall", tönt es philosophisch im vorwärts stürmenden New-Wave-Stampfer "Three sides of Nazareth", das trotz längerer Verschnaufpause im Mittelteil der gewaltigste Track des Albums ist. Kontrastreich wird es nicht nur mit "Leaves", das sich fast unbemerkt aus der Affäre zu ziehen scheint, bis schließlich die Stimme von Klein-Nicolas erklingt, der seinem Vater auf einer alten Aufnahme von seinem Traum berichtet – zum Leben erwachte Statuen und Löwen inklusive. Es ist auch einem solch herzigen Moment zu verdanken, dass der Abschlusstrack "History lesson" mitsamt Fünfzigerjahre-Harmonien und DooWop-Anleihen auf "Siren" nicht vollkommen fehl am Platz wirkt – im Gegenteil sogar. Jaar hält seinen Hörern abermals den moralischen Spiegel vors Gesicht und arbeitet sich in sechs besungenen Kapiteln am menschlichen Versagen ab. Ganz ehrlich: Wenn das die Strafe dafür ist, nimmt man sie sogar ganz gern in Kauf.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The governor
- History lesson
Tracklist
- Killing time
- The governor
- Leaves
- No
- Three sides of Nazareth
- History lesson
Im Forum kommentieren
Anonymität
2019-08-20 11:38:02
Ja ist definitiv sehr gut.
Auch wenn mir sein House Zeug besser gefällt. Also AAL ist bei mir definitiv ein Top20 Kandidat des Jahrzehnts.
maxlivno
2019-08-20 11:16:42
Das Album war damals Liebe aufs erste Hören. Wie er scheinbar mühelos die verschiedenen Genres zu einem großen Ganzen mischt und dazu noch das Album mit politischen Botschaften/Motiven auflädt ohne dass es auch nur einmal verkrampft vorkommt ist ganz großes Kino! Wird definitiv in den Top 5 dieses Jahrzehnts für mich landen. 10/10
Dielemma
2018-03-06 14:19:06
gibt Neues unter dem Against All Logic Synonym, unbedingt reinhören!
Klaus
2016-10-24 17:27:43
Schade, dass der siebente Track es nicht auf die physische VÖ geschafft hat, sondern nur in den Stream. Er rundet das ganze gut ab.
Jennifer
2016-10-19 21:25:36
Von Darkside ist derzeit nichts geplant, glaub ich. Das weiß man bei Jaar halt nie genau, aber offiziell pausieren die seit 2014. Dave Harrington ist ja auch mit seiner neuen Band beschäftigt.
Der Kurztext stammt übrigens von Armin, nicht von mir.
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