Heisskalt - Vom Wissen und Wollen

Department / Sony
VÖ: 10.06.2016
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Majestätische Schatten

Manchmal ist es einfach befreiend, Musik von ungeliebten Künstlern zu dissen. Sich abzugrenzen, die Grenzen des persönlichen, unantastbaren Geschmacks klar zu markieren. Und oft genug ist es auch allzu leicht, voreingenommen zu sein. Gerade dann, wenn Musiker einen derart komischen Bandnamen nach außen tragen wie Heisskalt. Nicht wenige selbsternannte Szenepäpste rümpften damals die Nase, als die Stuttgarter "Hallo" präsentierten, dieses pop-punkige Ohrwurm-Biest, das ihnen Dauerrotation beim SWR-Jugendsender "Das Ding" bescherte und rasch über YouTube die Republik eroberte. Doch man tat den Schwaben Unrecht, wenn man ihr musikalisches Talent auf diesen Song reduzierte, der mittlerweile wie ein Fremdkörper im Schaffen der Truppe wirkt. Weil Heisskalt ihn eben nicht gingen, den vermeintlich leichten, vorgepflasterten Weg in die Charts. Denn ihr langerwartetes Debüt "Vom Stehen und Fallen" war sicherlich vieles – bloß eines nicht: kalkulierte Musik für die niveauarmen, deutschtümelnden Radio-Hitparaden dieses Landes.

Heute scheint es, als wäre das eine Finte gewesen: Kurz im fröhlichen Mainstream aufblitzen und ein paar Unerschrockene mit in den Stimmungs-Sumpf ziehen: Wucht, Härte, Kanten und eine bemerkenswerte Halbwertszeit bot diese vom Rezensenten zunächst unterschätzte Platte zwischen Post-Hardcore und Pop, sodass "Vom Stehen und Fallen" nunmehr als eines der bemerkenswertesten deutschsprachigen Debüts der letzten Jahre gelten darf. Gut 24 Monate später haben Heisskalt zumindest ein wenig die Quittung für diese Mainstream-Verweigerung bekommen: Sie bespielen nicht die großen Festival-Slots, feiern keine Mitklatsch-Orgien in Fußballstadien, sondern zerlegen mit großem Spaß kleine und mittlere Clubs – frei nach dem Motto aus "Euphoria": "Das ist möglich / Darum tun wir es!"

Anspruch statt Arena, Kunst vor Karriere? Diesen Weg geht die junge Band mit ihrem zweiten Album "Vom Wissen und Wollen" unbeirrt weiter – und man nimmt es dem Quartett zu 100 Prozent ab. Unbeirrt vor allem deswegen, weil Heisskalt die eigenen musikalischen Stärken im Vergleich zum Debüt nun besser kanalisieren. Indem sie allzu offensichtliches Songwriting zugunsten rhythmisch ambitionierter Kompositionen opfern – mit teils schwermütiger, aber immer berührender Atmosphäre. Weil sie den Pop-Appeal samt Sprechgesang, der die Truppe ebenso ausmacht, konsequent zulassen, aber in melancholischen Post-Hardcore betten – und so den Fokus auf zunächst ruhige, sich intensiv steigernde Tracks legen. So steht nicht nur die feine Auskopplung "Absorber" in der Tradition der Vorgänger-Highlights "So leicht" und "Gipfelkreuz" und versucht sich überdies an einem Elektropop-Sample, bevor sie mit aller Hingabe in sich selbst zusammenbricht.

Auch das nachdenkliche "Apnoe", "Von allem" und das zum Ende impulsive "Doch" lassen den Hörer erst nach über fünf Minuten los – und noch immer ist man versunken in den oft schonungslosen und destruktiven Zeilen von Sänger Mathias Bloech. Seine Texte reflektieren dabei persönliche Beziehungen zwischen Individuen, die im Rausch der schnelllebigen Gesellschaft das Hier und Jetzt kaum greifen können, und ins Morgen und Übermorgen kaum Vertrauen haben: "Nur immer und immer wieder Druckausgleich / Kein Geräusch, nur die Leere, von allem Erleben / Bleibt nur dieses bunt kolorierte Rauschen im Ohr", konstatiert er in "Apnoe". Und immer, wenn die "schäbig lachende Nacht" hereinbricht, ist man erneut auf der Suche nach der Bereitschaft und dem Mut, mit sich selbst ins Reine – oder endlich mal anzukommen.

Doch passend zu musikalischen Ausbrüchen und geballten Gitarrenwänden geben sich Heisskalt auch kämpferisch: "Ich will nur einmal ohne Zweifel sein", schreit Bloech in "Absorber" den Wunsch nach Konstanz heraus. "Trauriger macht", eine kleine Hymne voller wunderbar atmosphärischer Thrice-Gitarren, beschreibt den herbeigesehnten Moment, der alles verändern kann: "Der Blick nach vorn scheint für den Augenblick ertragbar / Die Grenzen verschwimmen." Doch selbst das "Lied über nichts" löst sein musikalisch-poppiges Versprechen der Kritiklosigkeit natürlich nicht ein. Irgendetwas wäre auch faul, bliebe bei dieser Band dann nicht doch wieder die Wut, die im Hardcore-Berserker "Tanz, tanz" ihr Ventil findet. Und dann ist er am Ende wieder da, der "Schatten an der Wand / Mit Initialen darin". Doch auch das ist nur folgerichtig. Denn kaum eine Truppe projiziert die inneren Schattengebilde derzeit so majestätisch nach außen wie Heisskalt. Die fast 54-minütige emotionale Zerrissenheit dieses Albums einfach auf sich wirken zu lassen, kann ganz schön befreiend sein.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Absorber
  • Apnoe
  • Trauriger macht
  • Tanz, tanz

Tracklist

  1. Euphoria
  2. Absorber
  3. Nacht ein
  4. Angst hab
  5. Apnoe
  6. Trauriger macht
  7. Von allem
  8. Doch
  9. Nichts weh
  10. Lied über nichts
  11. Tanz, tanz
  12. Papierlunge
Gesamtspielzeit: 53:39 min

Im Forum kommentieren

Autotomate

2022-09-16 18:36:51

Ich dagegen könnte in eine "Emo-Befindlichkeitsphase" geraten, wenn ich sehe, wie geil die live waren, ich das aber nie vor Ort verfolgen durfte. Der Rockpalast-Sound ist natürlich auch tiptop...

Ralph mit F

2022-09-16 18:14:20

Das Album ist eine 10/10. Hat mir in einer Emo-Befindlichkeitsphase damals wirklich geholfen.

Affengitarre

2022-09-16 17:18:21

Die waren auch live so gut! Hier noch ein Konzert aus dieser Ära:

Affengitarre

2022-09-16 17:14:40

Mensch, ich liebe dieses Album, womöglich mein liebstes deutschsprachiges Album überhaupt. Der Sound ist auch einfach genau mein Ding. Bin auch immer wieder baff, dass zwischen „Hallo“ und „Absorber“ nur drei Jahre lagen, die Band hat einfach in kürzester Zeit die perfekte Entwicklung durchgemacht.

The MACHINA of God

2020-04-08 16:54:01

Hehe

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