Radiohead - A moon shaped pool

XL / Beggars / Indigo
VÖ: 08.05.2016
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Don't leave

Prolog: How to disappear completely

Plötzlich war alles weg. Und die allgemeine Aufregung stieg ins beinahe Unermessliche: Als Radiohead wenige Tage vor der Veröffentlichung des neuen Albums die eigene Internet-Präsenz fast gänzlich ausradierten, begann das Netz zu hyperventilieren. Man deutete diesen Akt der Auslöschung als Zeichen für einen Neubeginn, als Indiz auf eine mögliche neue Platte. Hysterisch wurden Bestenlisten gezimmert und Wünsche geäußert, in welche Richtung sich Thom Yorke, Jonny Greenwood und Co. doch bitte entwickeln mögen. Es war also durchaus spannend zu beobachten, wie schnell das dicke Geflecht aus Nullen und Einsen zu pulsieren begann, wie aufgeregt und erwartungsfroh in den sozialen Medien debattiert, gestritten und frohlockt wurde. Nicht zuletzt schürte diese Aktion auch grenzenlose Vorfreude: Selbst bei Menschen, die Radiohead über die letzten Jahre irgendwie aus den Augen verloren hatten, kribbelte es in der Magengegend.

Akt I: Optimistic

In den folgenden Tagen veröffentlichten die Briten zwei äußerst sehenswerte Videoclips, die dann auch jeden letzten Zweifel beseitigten. Und als letztlich die konkrete Album-Ankündigung den recht zeitnahen Release von "A moon shaped pool" offenbarte, mischten sich bei manch einem die Gefühle: Werden Radiohead weiter dem verschlungenen Electronica-Pfad folgen, den sie zuletzt mit "The king of limbs" einschlugen? Oder werden sie sich zurück zu den Wurzeln begeben, mit fokussierteren Stücken, die etwas mehr von dem Gefühl in sich tragen, welches sie dereinst in unsere Herzen, Köpfe und Nervensysteme transportierten? Die zwei Vorab-Songs "Burn the witch" und "Daydreaming" konnten eine Richtung nur vage andeuten. Und wer garantiert überhaupt, dass jene Auskopplungen nicht falsche Fährten sind, bewusst gelegt, um die nächste unerwartete Wendung zu verschleiern? Die Qualität der beiden grundverschiedenen Kompositionen war jedoch bestechend und stimmte vollumfänglich positiv.

Akt II: Motion picture soundtrack

Richten wir nun den Blick nach vorne, ins Hier, ins Jetzt: Auf "A moon shaped pool", mit all seinen Facetten, all den Einflüssen, dem perfekt inszenierten Sound, den unendlich vielen Verweisen. Recht schnell wird klar, dass sich der Wind mit dem neunten Album wieder gedreht hat: Die Band agiert weniger abstrakt-elektronisch als zuletzt, setzt in besonderem Maße auf Streicher und Piano. Ein Umstand, der sicherlich auch mit den Arbeiten Jonny Greenwoods zu erklären ist, der in den letzten Jahren einige hochgelobte Film-Soundtracks komponierte, unter anderem für die Paul-Thomas-Anderson-Streifen "The master" und "Inherent vice". Folglich herrscht auf "A moon shaped pool" eine verdichtete, kohärente Atmosphäre: Die Songs folgen einem Spannungsbogen, von den ersten nervösen Takten des Openers "Burn the witch" über das mehr oder weniger als Interlude fungierende "Glass eyes" bis zur abschließenden Coda "True love waits" ergeben sich mehrere Aufs und Abs, ein Wellenbad der Gefühle, Aprilwetter im Herzen.

Akt III: Everything in its right place

Auffällig ist bereits die Tracklist: Fein säuberlich in alphabetischer Reihenfolge liegen sie da, die elf Stücke, die "A moon shaped pool" bilden. Ein Schelm ist, wer sich nichts dabei denkt: Jeder Handstrich im umfangreichen Kosmos von Radiohead ist wohlüberlegt und wird entsprechend diskutiert. Und so dürfte es eben auch kein Zufall sein, dass "Burn the witch" den Anfang macht: Nervöse Streicher leiten das spannungsgeladene Intro ein, darunter sorgt ein knarzender Beat für die nötige Bodenhaftung. "Stay in the shadows / Cheer at the gallows / This is a round up / This is a low flying panic attack / Sing a song in the jukebox that goes / Burn the witch" lauten die ersten Zeilen, die Yorke beschwörend singt, einer Warnung gleich. Das Stück entfaltet im Verlauf eine stürmische Dramatik, die sich gen Ende in einem Crescendo auflöst und die zarten Pianoklänge von "Daydreaming" einleitet. Für diese Ballade öffnet sich Yorke vollkommen und legt schonungslos seine Gefühlswelt dar. Es entsteht eine zerbrechliche, sensible Nummer, die stetig an Intensität gewinnt. Diese wird zu Beginn von "Decks dark" weiter erhöht, errichten Radiohead hier doch eine düstere Versuchsanordnung, die das soundästhetische Erbe von "OK computer" und "In rainbows" antritt. Speziell in diesen Momenten kommt auch der fantastische Produktionsklang zum Tragen: Warm und formvollendet erklingen die Songs – es ist eine Wonne.

Akt IV: Sail to the moon

Durch den größtenteils erfolgten Verzicht auf elektronische Spielformen entstanden Leerstellen, die Radiohead nun sinnvoll füllen: Auf "A moon shaped pool" gibt es klare Bekenntnisse zu Krautrock, Jazz-Annäherungen und wunderhübsche Folk-Verbeugungen, die man so wohl wirklich nicht mehr erwartet hätte: "Desert island disk" leuchtet fahl im pinken Mondlicht und gilt als einer der Ruhepole eines Albums, das nur wenig Rast kennt. Herzerwärmend auch der hinlänglich bekannte Piano-Schmachtfetzen "True love waits", der das Album mit großer Geste beschließt. Dass jener Song bereits in den Neunzigern geschrieben wurde und seitdem nie Platz auf einem Studioalbum gefunden hat, sollte nicht als Makel begriffen werden: Als Schlusspunkt von "A moon shaped pool" hat er, gemäß seines Titels, lediglich auf die richtige Gelegenheit gewartet, schönste Gänsehaut verursachen zu können. Der eigentliche Grund ist hingegen trauriger Natur.

Akt V: Where I end and you begin

"A moon shaped pool" könnte und sollte man nämlich auch als Trennungsalbum begreifen: Nach über zwanzig Jahren ging die Beziehung von Yorke in die Brüche und die Gefühle, die mit einem solchen Verlust einhergehen, verarbeitet er auf lyrischer Ebene. Da wäre das getriebene, finster schimmernde "Ful stop", in dem er über einen Geister-Beat das Mantra "You really messed up everything" wiederholt, bis jene Message in Fleisch und Blut übergeht. Radiohead erschaffen in diesen sechs Minuten eine unheimliche, transzendentale Stimmung: Hier musiziert sich das Quintett in einen wolkig-sandigen Schwebezustand. Und auch im ruhigen, von Akustikgitarre getragenen "Present tense" werden Einsamkeit und Hingebung zum Verhandlungsgegenstand. Deutlich stiller zwar, aber nicht weniger intensiv. Die Erkenntnis reift: "A moon shaped pool" gehört zum persönlichsten, was Radiohead bis dato veröffentlicht haben. Kein wirklicher Paradigmenwechsel vielleicht, aber doch ein Schritt, der nach dem beinahe inhumanen "The king of limbs" und den zunehmend abstrakteren Solo- und Seitenprojekten überraschend und letzten Endes irgendwie befreiend wirkt: Eine Band landet nach Jahren im All wieder auf Mutter Erde.

Epilog: All I need

Mit ihrem neunten Album haben die Briten ihrer großartigen Diskografie zweifelsohne einen weiteren Meilenstein hinzugefügt. Ein zärtliches, zerbrechliches Werk voller offener Fragen, introspektiv und besonnen, anspruchsvoll und dennoch zutraulich. Die Bedeutsamkeit dieser Band misst sich letztlich also nicht an der schieren medialen Aufregung, die sie verursacht, sondern an der steten Qualität ihres Outputs. Es ist auch nur semiwichtig, auf welchem Weg Yorke, Greenwood und Co. ihre Kompositionen veröffentlichen. Am Ende zählt die Musik. Und die gehört 2016 zum Besten, Wahrsten und Schönsten. Aus dem Nichts und für die Ewigkeit.

(Kevin Holtmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Burn the witch
  • Ful stop
  • Identikit
  • Present tense
  • True love waits

Tracklist

  1. Burn the witch
  2. Daydreaming
  3. Decks dark
  4. Desert island disk
  5. Ful stop
  6. Glass eyes
  7. Identikit
  8. The numbers
  9. Present tense
  10. Tinker tailor soldier sailor rich man poor man beggar man thief
  11. True love waits
Gesamtspielzeit: 52:31 min

Im Forum kommentieren

humbert humbert

2024-07-08 14:14:06

@ The MACHINA of God
The Smile bekommt mich noch weniger als das Album. Das vielgelobte 'Bending Hectic' finde ich z.B. ziemlich öde, absolut vorhersehbar und inspirationslos mit seinem Ausbruch am Ende.
Ich mag Yorke aber immer noch gern, wenn er elektronisch wird. Anima ist aber leider nun auch schon 5 Jahre her.

The MACHINA of God

2024-06-21 22:59:15

Im gleichen Jahr ist Yorkes Ex Frau an Krebs gestorben.

Genau dadurch find ich das Album auch so intensiv. Erst eine Art Trennungsalbum und am Ende des Jahres quasi ein Abschiedsalbum geworden.

AliBlaBla

2024-06-21 22:01:37

Wenn man Thom Yorke gut findet, muss man halt polyamorph offen sein ;)

Lateralis84skleinerBruder

2024-06-21 22:00:31

Habe vor ein paar Tagen auch mal wieder das ganze Album am Stück gehört.
Hat sich einer mal Gedanken zu Daydreamlng gemacht?
Im gleichen Jahr ist Yorkes Ex Frau an Krebs gestorben.
Bei dem Gedanken wuchs mir der Song nochmals mehr ans Herz

The MACHINA of God

2024-06-21 21:34:32

Bin in der Hinsicht eh für Polyamorie.

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