Ida Gard - Womb

Revolver / Rough Trade
VÖ: 19.02.2016
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 10/10
10/10

Nichts für die Eckkneipe

Der Wirt wischt über die Theke. Der dreckige Lappen verteilt den Schmutz, der sich im Laufe der Jahre noch nicht in dem Holz festgefressen hat, nur über die gesamte Fläche, doch die alten Gesichter, deren Hintern Tag für Tag Narben in die Barhocker schlagen, kümmert es nicht. Wenige Meter weiter, an den unbesetzten Tischen vorbei, steht im Zwielicht eine Gestalt mit Akustikgitarre in der Hand und nuschelt ein paar Zeilen in die bierselige Stille der Kaschemme. "Wer isn dat überhaupt?", fragt einer den Wirt. "Traurige Geschichte, frag nicht", antwortet der, als er kopfschüttelnd den Lappen beiseite legt, "werde nie verstehen, wie man als Musiker das Angebot einer großen Plattenfirma ausschlagen kann." - "Na ja, in manchen Fällen ergibt das schon Sinn", meldet sich ein anderer zu Wort, "da ist diese Dänin, Ida Gard heißt sie, die hat auch einen Major-Deal ausgeschlagen. Das hätte ihr sicherlich viel Geld und wesentlich mehr mediale Präsenz als die gerade in ihrer Heimat ohnehin vorhandene eingebracht. Aber wenn es ein zentraler Punkt des eigenen Werkes ist, wie schon im fantastischen "On his knees" von ihrem 2011 erschienenen Debüt "Knees, feet & the parts we don"t speak of", sich nicht verbiegen oder von Normen verändern oder eben von Plattenfirmen zum nächsten hübschen Ding mit Gitarre stilisieren zu lassen, dann kann es auch ein Teil der Message sein, solche Deals auszuschlagen. Ihr hat das immerhin eine Tour mit Bob Dylan eingebracht und ihr drittes Album "Womb" ist auch gerade draußen. Soll ich Euch noch ein wenig mehr dazu erzählen?"

"Na ja, ich müsste sonst gleich los zur Arbeit, sofern du mir also ein paar Minuten bis dahin die Zeit versüßen kannst, lass schon hören." "Wunderbar! Also Ida Gard auf eine Musikrichtung festzunageln, fällt nicht so leicht, denn schon auf den letzten beiden Alben versammelte sie Synthies, Beats und E-Gitarren, wobei die meisten Lieder auch in Singer-Songwriter-Manier funktionierten. Es konnte gleichsam sehr eingängigen Pop wie etwas sperrigen Indie-Rock ergeben, trug aber durch Ida Gards Stimme sowie ihre mal melancholischen, mal humorvollen und selbstironischen Texte stets die eigene Handschrift. Auf "Womb" ist es nun ähnlich, wenngleich Frau Gard hier wesentlich häufiger mit ernsthaften Worten zur Tat schreitet, während sie ihren eigenen Lebensweg musikalisch nachzeichnet. Der Ausgangspunkt "On the floor" gerät dabei sehr verträumt und zeigt die Liebe zur Musik, wenn die Protagonistin jedes ach so kleine Geräusch ihrer Umwelt freudig in sich aufnimmt. Von dort aus geht es mit dem mystisch klingenden "Burning blue fire" in die intimen Gefilde einer Jugendfreundschaft, und mit "Vittula Part I" sowie "Vittula Part II" behandeln schmerzhafte Erfahrungen mit der Liebe im Leben der Heranwachsenden." "Vittula? Da klingelt es bei mir. Hat das was mit dem Roman "Populärmusik aus Vittula" von Mikael Niemi zu tun? Da geht es ja auch um das Aufwachsen, sich nicht von Normen verbiegen zu lassen und vor allem um Rockmusik", redet der Wirt rein und wischt sich den Bierschaum aus dem Schnauzer. "Ja, die Namenswahl der Songs war sicherlich kein Zufall, gerade in "Rocking rodent" drückt Gards verzerrte Stimme das rotzige Aufbegehren ähnlich aus. Auch "The heat" ist nochmal ganz schön breitbeinig, dafür aber wesentlich eingängiger und ein ziemlicher Hit.

Das Duett "I didn"t pick this dress feat. Steffen Westmark" wiederum behandelt mit der sexuellen Identität ein Thema, das Ida Gard, die sich im Video zu "Womb" kaum stärker von blonden Modepüppchen und sonstigen verkaufsträchtigen Stereotypen wie dem süßen Mädchen vom Lande mit Gitarre hätte distanzieren können, besonders wichtig ist, schließlich tritt sie entschieden dafür ein, Sexualität auszuleben, wie es der eigenen Individualität entspricht. Ein paar kleine Schwächen, wie die Abnutzung des wuchtigen Titeltracks, der eigentlich nicht den Stoff für vier Minuten hergibt, fallen hier wahnsinnig schnell wieder aus dem Blickfeld, weil es einfach viel zu viele tolle Momente zu entdecken gibt. Da wäre die A-capella-Nummer "He spoke to me" oder vor allem der herrlich bescheuerte Ausbruch "Whatever it takes to get to China", der die sonnigsten Gefühle weckt. Da schreibt man für Frau Gard gleich einen platonischen Dialog und trällert danach durch die Straßen: "Follow the chopsticks / Hurry up, girl / We don"t belong / But they don"t know / Follow the soy sauce / Go!"" "Mit anderen Worten: In unserer Kneipe wird sie nicht so bald auftreten, was?"

(Marcel Menne)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • I didn't pick this dress feat. Steffen Westmark
  • Whatever it takes to get to China

Tracklist

  1. On the floor
  2. Burning blue fire
  3. Womb
  4. To the woods
  5. Vittula Part I
  6. I didn't pick this dress feat. Steffen Westmark
  7. Whatever it takes to get to China
  8. He spoke to me
  9. Vittula Part II
  10. Rocking rodent
  11. The heat
  12. Peeing in the snow
  13. Sons of Isak
  14. This is an ending
  15. Is it already over?
Gesamtspielzeit: 57:18 min

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Armin

2016-03-16 20:39:56

Frisch rezensiert!

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