
Erik Cohen - Weißes Rauschen
RYL NKR / Rough TradeVÖ: 15.01.2016
Goth weiß was
Fun Fact aus dem Plattentests.de-Gebäudekomplex: Ein Kollege, dessen Name nicht weiter interessiert, nennt den Autor dieser Rezension manchmal gütig verballhornend "Gothomas" – aus Gründen, die ebenfalls nicht näher erläutert werden sollen. Großes Hallo also bei der jüngsten Redaktionssitzung, als das zweite Soloalbum von Smoke-Blow-Sänger Jack Letten alias Erik Cohen auf dem Tisch lag. Schwarz umrandetes Cover mit düsterem Protagonisten und Grabkreuz, ein Vorabtrack namens "Totenspinnengeist" – mehr Gothic geht zumindest auf den ersten Blick nicht. Und das, obwohl Lettens Debüt "Nostalgie für die Zukunft" eher ein mehr als grundsolides Stück deutschsprachiger Rockmusik zwischen Räudigkeit und Schwermut war, das mit "Chrom" oder dem fantastischen "Dirigent" auch diverse Hits auf der Pfanne hatte.
Gut zu wissen, dass der Kieler auf "Weißes Rauschen" die Kirche dann doch weitgehend im Dorf lässt und allenfalls mit einem Augenzwinkern von "Doom-Pop" spricht. Und besser lässt sich der furiose Auftakt "Hier ist nicht Hollywood" in der Tat kaum beschreiben. Ein geschwinder, von einem knorrigen Basslauf getriebener Hit, in dem die Gitarre punktgenaue Licks setzt und der sich von tiefhängenden Keyboards in irisierenden Nebel hüllen lässt. Was Simple Minds einst ihr "Theme for great cities" war, ist hier sowohl der Soundtrack zu einer grauen Provinz, wo der Protagonist über Friedhöfe und durch eingestürzte Fabrikhallen streift, als auch eine Absage an Glitzerwelten ohne substanziellen Inhalt. New Wave der Achtziger und Punkrock mit Köpfchen flackern rasant um die Wette, und Kapitän Letten hat mal wieder den Hut, pardon, die Mütze auf.
Und in diese passt neben den bereits angerissenen Eckpfeilern dieses Albums auch noch genug anderes: Etwa das halbakustisch gekippte "Regen" oder auf lockere Twang-Riffs gebaute Ohrwürmer wie die Vergänglichkeitshymne "Nur ein Herzschlag", die gewaltsam auf Effekt und künstliche Party gebürsteten Spaßbremsen wie The BossHoss zeigt, dass es auch anders – und sehr viel besser – geht. Der elektronisch unterwanderte Schleicher "Neues Blut" koppelt dann grundsätzliche Daseinsfragen mit raubeiniger Seebärenromantik – der Norddeutsche weiß eben, wo er herkommt beziehungsweise hingehört. Unter anderem auch in schummrige Clubs und zwielichtige Kaschemmen, wo das großartige "Schattenland" zu abwechselnd kehliger und brüllsäuselnder Stimme dynamisch losrockt.
Und landet das desorientiert grinsende "Tapete" in einer verqualmten Kommune, weiß auch der Smoke-Blow-Fan wieder Bescheid: "Der Dschungel wächst und muffelt vor sich hin / Bekiffte Fliegen eiern um den Lampenschirm." Spätestens jetzt ist klar: Begriffe wie Gothic oder Deutsch-Rock im altehrwürdigen Sinne tun diesen differenzierten, oft doppelbödigen Songs Unrecht, da sie immer wieder planvolle Haken schlagen: "Totenspinnengeist" spukt zwischen The Sisters Of Mercy und irrlichternden Keyboard-Sphären hin und her, "Der heilige Gral" stampft uneinsichtig mit dem Fuß auf und verweigert jegliche Genrezugehörigkeit, und "Das gute Gefühl" verbreitet zum Schluss ein ebensolches, wenn Starkstrom-Riffs und Kapriolen aus der Hammond-Orgel zur Sonne dringen. Und nicht nur deswegen dürfte "Weißes Rauschen" noch einen langen Schatten werfen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hier ist nicht Hollywood
- Schattenland
- Totenspinnengeist
- Das gute Gefühl
Tracklist
- Hier ist nicht Hollywood
- Deine Dämonen
- Nur ein Herzschlag
- Schattenland
- Regen
- Totenspinnengeist
- Neues Blut
- Der heilige Gral
- Tapete
- Das gute Gefühl
Im Forum kommentieren
Flami
2016-01-19 08:50:50
Klare Steigerung zum Debut.
Es steht ihm gut, dass die neue Scheibe insgesamt düsterer ist und weniger losrockt.
Die beim Debut regelmäßig als Referenz genannten The Cult, Danzig und The Sisters Of Mercy schlagen dieses Mal, im Gegensatz zum Erstling, tatsächlich durch.
Auf "Nostalgie Für Die Zukunft" gab es natürlich auch schon richtig gute Tracks, aber eben auch Füllmaterial, das mich in den schlimmeren Momenten gar an Udo Lindenberg (brrr...) erinnerte.
Solche Aussetzer fehlen auf "Weisses Rauschen" komplett.
Ein wirklich gutes deutschsprachiges (Wave) Rock Album, jenseits aller Schlagerpop-Peinlichkeiten ála Silbermond, Bourani und Co.
Armin
2016-01-05 00:30:35
Frisch rezensiert!
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