Björk - Vulnicura strings
Embassy Of Music / WarnerVÖ: 06.11.2015
Streicherzart ohne Regenschirm
Kleiner Hosenscheißer, zu Zeiten vor dem heimischen Fernseher geparkt, in denen Journalisten die erste Person Singular in Texten tunlichst vermieden, Mama und Papa außer Haus. Und dann brennt sich ein Song samt Musikvideo in den Hippocampus ein: Eine lustige Frau, deren Name aufgrund der frappierenden Ähnlichkeit zum eigenen sofort Aufmerksamkeit erregte, tanzte da zwischen bunten Regenschirmen umher. Sie sang. Und schrie. Björk, Ekstase, Aufdrehen, Eintauchen. Gesang. Schrei. Stille. Schrei. Fast 20 Jahre später veröffentlichte Björk Guðmundsdóttir "Vulnicura", das Album, das die versammelte Musikschreiberschaft zu Assoziationsketten mit Herzschmerz, Operation und Heilung verleitete. Von der lustigen Frau war nicht mehr viel zu hören. Auch schrie sie hier nicht mehr. Sie war verletzt. Sie weinte. Und das machte "Vulnicura" mehr zu einer Offenbarung, zu einer Reise in eine zerbrochene Seele. Zusammen mit The Haxan Cloak und Arca zeigte Björk noch einmal, warum sie die wichtigste Künstlerin des 21. Jahrhunderts ist und was sie dem Rest der Popkultur voraushat: Relevanz und Innovation. Nun folgt mit "Vulnicura strings" die obligatorische kritische Ausgabe, die jedes ihrer Alben bekommt und aus Remixes oder Live-Versionen oder irgendetwas komplett anderem besteht.
Dieses Mal entschied sich Björk, die Elektronik aus den Songs zu entfernen, dafür neue Spuren unterzumischen, hier und da an der Lautstärke zu spielen – und ihrem Album so eine komplett neue Richtung zu geben. War das Original noch ein introvertierter Moloch, der sich in die Endlosigkeit des Schmerzes ausbreitete, hat diese Version einen dichten Sound, der die Songs eher trägt. "Atom dance" wirbelt elegant über die Geigen, die Stimmen von Antony Hegarty und Björk singen ihre Zeilen darüber. Schlug "Vulnicura" noch eine Wunde, öffnete sich, bleibt das Gefühl, dass "Vulnicura strings" sich ein wenig mehr verschließt. Nie fährt eine blanke Klinge durch den Sound, nie passieren unerwartete Dinge. Vielmehr ist dieses Album eine Zuflucht. "Black lake", in der Originalversion ein Meer, ein Versinken, ein Untergang, hat Björk hier zu einem sicheren Hafen gemacht. Tränen kullern, keine Frage, aber jedes Mal bleibt ihre Stimme eine tröstende Berührung. "I am blind, drowning in this ocean", singt sie, doch sie hat den Ozean hier abstrakter und klassischer gezeichnet.
Auf große Experimente lässt sich Björk hier nicht ein – weshalb auch? Allerdings lässt sich dieses Album nicht wirklich neben "Vespertine" verorten, jener Platte, der sie bis heute den Ruf einer isländischen Elfe verdankt. Ein "Pagan poetry" würde zwischen diese acht Songs nicht passen. Auch die Neuordnung der Stücke folgt einer inneren Dynamik. "Mouth mantra" rollt den Teppich auf, unter den "Family" die ganze Geschichte dann wieder kehren möchte. Denn "Vulnicura strings" bleibt trotz allen Veränderungen ein intimes Album. Der Schmerz bleibt, die Zeit kann ihn nicht heilen – aber lindern. Es wird genug Hörer geben, die sich darauf nicht einlassen können, denen hier zu viel Leben in die Popkultur tropft, in der die Realität zu sehr in die Unterhaltung einbricht. Und das ist der Grund, warum "Vulnicura" eines der besten Alben seit langer Zeit war. Und das bleibt der Grund, warum diese folgende Platte so wichtig, so richtig, so wunderschön ist. Heute sitzt der kleine Hosenscheißer vor dem Laptop und tippt eine Rezension zu dieser lustigen Frau von damals. Sie singt. Sie weint. Sie bleibt die Stimme, der er bis ans Ende seines Lebens lauschen will.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Black lake
- Stonemilker
- Notget
Tracklist
- Mouth mantra
- Lionsong
- Black lake
- Atom dance
- Stonemilker
- Quicksand
- Notget
- Family
Im Forum kommentieren
Demon Cleaner
2015-12-21 22:13:34
Ein tolle Rezension, am Ende musste ich wirklich grinsen. :-)
Die ersten Höreindrücke fand ich aber nicht so spannend wie das Hauptalbum. Vielleicht höre ich aber noch mal rein.
Armin
2015-12-21 21:45:48
Frisch rezensiert!
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