Kreisky - Blick auf die Alpen

Buback / Indigo
VÖ: 21.03.2014
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Liebe und Hass

Drei Männer mit versteinerter Miene hämmern und kratzen auf ihren Instrumenten herum, kein Gefühlsausdruck ist zu sehen, der Schweiß auf ihrer Stirn gefriert vor lauter Coolness. Im Vordergrund zappelt ein wirres Kerlchen den Falco-Gedächtnis-Dance, er hebt den Finger und verkündet Parolen, er lässt sich auf die Knie fallen und kreischt sich das Allerletzte aus der Seele. Das sind Kreisky aus Wien, benannt nach dem wohl bekanntesten Kanzler der Zweiten Republik Österreichs. Das Kerlchen im Vordergrund ist Franz Adrian Wenzl, ein schnittiger Irrer, der jeden Live-Auftritt in ein Theaterstück transformiert. In breiter Schmäh kackt er dem Publikum entgegen oder betet es flehend an, marschiert gerne von der Bühne durch die Reihen der Zuschauer, lässt sich feiern und ausbuhen, lieben oder hassen – was eben gerade besser klappt. "Applaus ist das Brot des Künstlers", pflegt er stets zu sagen, doch auch die Buhrufe sättigen ihn. Vor ein paar Jahren waren Kreisky mit Madsen auf Tour und wurden in Heidelberg als Support der Familien-Combo fürchterlich ausgepfiffen. "Geil", nennt Wenzl diese Situation heute noch. Musikalisch aufsehenerregend waren Kreisky dabei auch jederzeit: Mit "Blick auf die Alpen" veröffentlicht das Wiener Quartett sein nunmehr viertes Album, welches den Schmiss der Vorgänger weiterhin in sich trägt, aber mit ausgeklügelterer Instrumentierung aufwartet.

Der Name der Platte ist Programm: Allzu gerne persifliert der Vierer seine vermeintlich österreichisch-dörfliche Herkunft, wie schon vor vielen Jahren im Video zu "Jacqueline". Kreisky kokettieren mit der eigenen Austrophilie, bauen augenzwinkernde Fassaden und reißen sie dann mit ihrem Post-Punk mit Noise-Einschlag mit dem Vorschlaghammer wieder nieder. Es ist so unpassend, wie Wenzl trällert, tanzt und wohl auch tickt, während die Truppe im Hintergrund mit dickster Joy-Division-Ästhetik auffährt, dass es erst so richtig scharf ist. Die Erstauskopplung "Selbe Stadt, anderer Planet" ist das beste Beispiel dafür: Ein stoischer Beat, mathematisch getimte Gitarren, Wenzl ruft mehr, als dass er singt, bis ein Gitarrenaufreißer den Chorus einleitet und der Sänger zuraunend der Welt erklärt, dass er auf seinem Parallelweltenplanet noch weiterschlafen dürfe, während die anderen schon zur Arbeit müssten und kritisiert dabei unterschwellig die Leistungsgesellschaft.

"Pipelines" schließt mit irrer Orgel an, die Gitarre torkelt besoffen um ein Tamburin herum, der Track bleibt seinem langsamen Tempo über weite Strecken treu, wird nur im Refrain etwas brausiger. Wenzl lässt sich im Text herumführen, besichtigt Kraftwerke und Raffinerien, bestaunt die Muskeln eines Fließbandarbeiters und wundert sich schließlich, wo diese "endlosen Pipelines ins Nirgendwo" wohl letztendlich hinführen. Auch hier sticht der kritische Ansatz wieder klar heraus, das Video zum Song bringt die Märchenwelt zum Vorschein. Auch "Rinderhälften" prangert an, attackiert die Konsumgesellschaft und erklärt die Welt damit gerettet, dass es doch schließlich mittlerweile "Rinderhälften zu Discounterpreisen" gäbe, während sich der Opener "Wir Unterhaltenen" dem gleichen Thema zuwendet. "Der Mensch gehört nicht in die Wildnis", argumentieren Kreisky in "Die Wildnis", Wenzl sitzt mit seinem Gegenüber Schnaps trinkend in der Kneipe. "Ich mehr / er weniger", singt er. Das Gegenüber lässt nicht locker, der Mensch sei ein Wildtier. Schließlich rastet Wenzl aus: "Das ist wider die Natur / Der Mensch gehört in eine Wohnung / Auf eine Sofagarnitur". Das Tröpfelnde weicht dem Drastischen, Wenzl jault dem Ende entgegen wie ein verlassenes Wölfchen.

"The show must go on", sagte eins Freddie Mercury, den Wenzl als "Austrofred" amüsant mit der eigenen österreichischen Herkunft verklüngelt. Die Show ist ein elementarer Bestandteil des Projekts Kreisky. Dieses Schauspiel aber es ist nur für die Distanz zwischen Rezipient und Künstler gedacht, um das Extreme herauszuholen, um Hass zu schüren und liebesbekundende Kniefälle zu provozieren, um auf diese Weise aufzurühren und die tatsächlich feinsinnigen Botschaften in den Seelenteig des Hörers zu mischen. Wer scheiße findet, was die Wiener mit "Blick auf die Alpen" abziehen, der sollte vielleicht noch einmal genau hinhören, was sie zu sagen haben.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Selbe Stadt, anderer Planet
  • Pipelines
  • Rinderhälften
  • Die Wildnis

Tracklist

  1. Wir Unterhaltenen
  2. Selbe Stadt, anderer Planet
  3. Pipelines
  4. Weinkrämpfe
  5. Die Wildnis
  6. Rinderhälften
  7. Wir machen uns Sorgen um Dich
  8. Blick auf die Alpen
  9. Todesstern
Gesamtspielzeit: 43:35 min

Im Forum kommentieren

Teller

2014-04-04 10:50:17

Für ne deutsche Band ist das schon ein hochinnovativer Ansatz. Könnten die neuen Ja Panik werden...

Horst

2014-04-04 01:57:27

Beste deutschsprachige Platte des Jahres.

Gerold Steiner

2014-03-25 22:38:55

"Wir Unterhaltenen" ist schon jetzt einer der Songs des Jahres. Ich mag das Album sehr; wenn man sich eingehört hat und auch alle Texte erarbeitet, dann ist das eine richtig runde Sache.

OT

2014-03-25 17:10:04

Cool, dann platzt hier endlich der 10er-Knoten! Bis bald in irgendeinem anderen Thread, ich will die Kreisky-Devotees nicht weiter nerven.

plastique

2014-03-25 16:44:12


Hi OT

Ich nehme an du meinst "plastique" ? Ja da ist wie immer alles in fantastischer Vorbereitung ! Das Comeback könnte jederzeit passieren !

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