Okkervil River - The silver gymnasium
ATO / Cooperative / PIAS / Rough TradeVÖ: 06.09.2013
Heimatmusik
Manchmal fühlt es sich ja schon ein bisschen so an, als wäre er immer dagewesen, dieser Will Sheff. Ob mit Okkervil River und Shearwater oder als Mitmusiker und Produzent anderer Künstler. Schwierig, sich die heutige Folk-Szene ohne den mittlerweile 37-jährigen Sänger vorzustellen, der dieser Tage mit seiner Hauptband Okkervil River das nunmehr siebte Album veröffentlicht. Nachdem "I am very far" 2011 nicht mehr alle Fans in ungeteilter Euphorie vereinen konnte, hat der Perfektionist Sheff dieses Mal auf ein wenig Kontrolle verzichtet. Statt "The silver gymnasium" wieder selbst zu produzieren, ließ er John Agnello an die Regler, der bereits mit Dinosaur Jr., Sonic Youth oder auch Kurt Vile zusammenarbeitete. Herausgekommen ist ein Album, das ausgelassener klingt als sein Vorgänger, von der bei Sheff oft vorherrschenden Melancholie aber nur stellenweise abweicht.
Gut möglich, dass das etwas mit dem Thema des Albums zu tun hat: Als Inspiration diente Sheffs Heimatstadt Meriden, ein 300-Seelen-Dorf in New Hampshire, in dem der Sänger während seiner Kindheit durch die Hölle des Schul-Mobbings gehen musste und in seinen späteren Teenager-Jahren aufgrund seiner Andersartigkeit und seines Willens, aus seinem Leben etwas zu machen, von den Dorfbewohnern geächtet wurde. Als Sheff der Stadt den Rücken zuwandte, um im texanischen Austin schließlich Okkervil River zu gründen, muss es sich zunächst wie Flucht angefühlt haben, bis darauf die Erleichterung folgte. "The silver gymnasium" strotzt demzufolge vor kleinen, intimen Momenten, die dennoch oft in triumphalen, überschwänglichen Melodien gipfeln. Bei "Stay young" beispielsweise, einem bläserstarken Mantra über sein kindliches Selbst, in dem er allen Mut zuspricht, die sich in ähnlich ungünstigen Situationen befinden.
Es gibt sie aber natürlich auch hier noch, die tragischen-düsteren Augenblicke, die man nur mit Müh und Not positiv sehen kann. Da wäre "Down down the deep river", in dem ein Sohn von seinem offenbar gerade erst wieder heimgekehrten Vater die herzzerreißenden Worte "Oh kid, I'm not going anywhere / I swear, I'll try not to be going anywhere" zu hören bekommt, bis Letzterem bewusst wird, dass es nicht reicht, es nur zu versuchen: "It's still so far from alright." Der mit astreiner Piano-Melodie ausgestattete Opener "It was my season" hingegen setzt sich mit den eigenen Fehlern der Vergangenheit auseinander, wagt den Blick aber nicht weit genug nach hinten, um eine genaue Antwort zu geben: "All that heart-in-my-mouth / All that head filled with doubt / It's fading out / I hardly think about it now."
Die zweite Hälfte von "The silver gymnasium" klingt im Vergleich etwas dunkler, kann das hohe Niveau aber halten. Der hypnotische Bass von "Walking without Frankie" schnürt beim Hören die Kehle zu, bis man sich mit Konzentration auf die anderen Instrumente von dem beklemmenden Gefühl befreien kann, das Sheff hier offensichtlich erzeugen will. Kurz angebunden klingt er hier, ganz anders als beispielsweise im hymnenhaften "White", in dem er sich langsam vom zweifelnden Kleinstädter in einen wagemutigen Weltenbummler zu verwandeln scheint, der am Ende erhobenen Hauptes auf seine Entscheidungen zurückblicken kann. Im Kontrast dazu steht der emotionale Absturz kurz vor Schluss im lyrischen Meisterwerk "All the time every day", in dem er sich klarmacht, das man als Mensch zwar die Stadt verlassen kann – die Stadt aber selten den Menschen wirklich loslässt: "I do the same, don't be ashamed, I'm the same / Yeah, I am that way / But I try every day and all the time". Und als ob Sheff selbst sie bräuchte, folgt am Ende schließlich doch noch die Versöhnung mit "Black Nemo": "Well, this songs means I'm going away / I'm floating away on the tide". Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu blicken.
Highlights & Tracklist
Highlights
- It was my season
- Down down the deep river
- All the time every day
- Black Nemo
Tracklist
- It was my season
- On a balcony
- Down down the deep river
- Pink-slips
- Lido Pier suicide car
- Where the spirit left us
- White
- Stay young
- Walking without Frankie
- All the time every day
- Black Nemo
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mispel
2018-05-09 20:02:24
Coole Sache. Vor allem die Bilder mit Street View. Und Will Sheff sah schon mit acht Jahren so aus wie heute :D
Gordon Fraser
2018-05-02 17:27:55
https://apps.npr.org/okkervil-river/
Falls das noch jemanden interessiert: Will Sheff erzählt anhand der tollen Karte aus dem Innencover ein bisschen aus seiner Kindheit und zeigt alte Bilder dazu. Berührend.
mispel
2017-09-06 14:36:35
Oh cool. Kannst es ja hier mal posten, wenn du was gefunden hast. Würde mich auch interessieren.
Gordon Fraser
2017-09-06 07:23:02
http://www.downdownthedeepriver.com
Hatte ich gar nicht auf dem Schirm: Will Scheff hat einen Film zum (tollen) Song gemacht. Mal schauen, ob der irgendwo komplett zu sehen ist.
Gordon Fraser
2013-11-29 09:07:01
Vorgestern Abend live in der Islington Assembly. Ich war wohl noch nie auf einem Konzert mit so vielen ergrauten Häuptern im Saal. Die scheinen in GB ein deutlich älteres Publikum anzusprechen als in D.
Die Show war ziemlich gut, der Fokus lag auf den neuen Stücken, was mich sehr gefreut hat. Bis auf "Down The River..." waren aber auch alle anderen Alben vertreten.
Setlist müsste ungefähr so gewesen sein:
It Was My Season
On A Balcony
Rider
Pink-Slips
John Allyn Smith Sails
Black
From A Cutlass Cruiser (Sheff solo)
A Stone (Sheff solo)
Stay Young
The Valley
All The Time Every Day
Where The Spirit Left Us
Kansas City
For Real
Our Life Is Not A Movie Or Maybe
Lost Coastlines
---
Down Down The Deep River
A Girl In Port
Unless It's Kicks
Berückend Sheffs Vortrag von "From A Cutlass Cruiser", allein mit der akustischen, das ging mir ziemlich nahe. Bei "Stay Young" und "Lost Coastlines" fehlt natürlich Jonathan Meiburgs Stimme, da kann der Bassist als Ersatz bei weitem nicht mithalten. "The Valley" als einziges IAVF-Stück war ein ziemlicher Fremdkörper. "Black Nemo" und "Walking Without Frankie" vom neuen Album hätte ich gerne noch gehört, aber man kann ja nicht alles haben.
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