Slut - Alienation

Cargo
VÖ: 16.08.2013
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Fremdeln oder Freunde

Am Anfang steht nicht viel. Genau gesagt: ein Stück Plastik. Dieses Stück Plastik ist braun, vielleicht weinrot, vielleicht auch flaschengrün. Es ist etwa so groß wie eine Zwei-Euro-Münze und nicht viel dicker als eine jener Werbebroschüren vom Supermarkt, die wir Samstag morgens immer aus dem Briefkasten entführen und samstagmittags der Abfallbeseitigung zuführen. Das Plastik hat die Form eines Dreiecks, ist an den Ecken abgerundet und liegt gut in der Hand, wenn man es anpackt. Wirklich richtig gut, wir haben das getestet. Auch jetzt noch, nach langer Reise, von Bayern bis hoch nach Berlin ist es mitgefahren. Es ist ein Plektrum. Und eigentlich benutzen es Gitarristen dazu, ihre Saiten anzuschlagen. Die Band Slut jedoch zweckentfremdet es. In ihrem neuen Song "Broke my backbone", dem Loops wie direkt aus der Notwist-Heimat Weilheim den Takt diktieren, spielt dieses Plektrum quer. "Ratsch, ratsch" macht es, wenn Slut es über die Lautsprecher-Lamellen eines Laptops ziehen. Ein Laptop, der in diesem Moment ebenso zweckentfremdet wird wie das Plektrum. "Ratsch, ratsch" machen die Bayern von Slut da oben in Berlin. Immer wieder. "Alienation" heißt das dazugehörige neue Album von Slut, was so viel wie "Entfremdung" bedeutet. Bei so viel Fremdeln in Titeln wie Musik, wer mag da an Zufall glauben? "Alienation" ist vielmehr ein Selbstversuch in zwölf Experimenten – oder Songs. Und manchmal, was von beidem noch übrig ist.

Entfremdung, das ist bei der Band Slut aus Ingolstadt eigentlich nie eine richtige Gefahr gewesen. Als sich Slut gründeten, war Deutschland noch amtierender Fußball-Weltmeister, vier fette Jahre nach der Wiedervereinigung war das. Der Zeigefinger am Abzug von Kurt Cobains Remington-Flinte wirkte noch nach, Stefan Effenbergs Stinkefinger sollte folgen – Tage des Fingers. Seither ist viel passiert, haben Slut in zwanzig Jahren in kleinen Kaschemmen genau wie im Vorprogramm von Robbie Williams "gerockt", wie der Bayer mit amtlich ausladendem rollenden "R" so sagt. Und sich dabei nie selbst verloren – geschweige denn ihre Fans, die immer zahlreicher wurden. "Grundansatz ist eine richtig gute Freundschaft. Die will einfach nicht enden", sagte Gitarrist Rainer Schaller erst kürzlich in einem Interview. "Alter, ist das langweilig!", meinen die einen. "Ist doch voll schön!", finden die anderen. Entfremden? Das muss so ein Kaff am Arsch von Nordfriesland sein. Und trotzdem gibt sich Christian Neuburgers entrückter Gesang noch ein wenig kühler als sonst, wenn er die Augen schließt, sich treiben lässt und "Go on and drive" singt. In einem Stück, das Slut proklamativ "Anybody have a roadmap?" getauft haben. Einem Stück, in dem sie Kammermusik-Electronica zu Brummz und Piepz kommen lassen, wie sich das einst Radiohead während ihrer "Kid A"-Phase getraut hatten. Ein wenig. "Alienation" ist ein Wagnis. Von Anfang an.

Außer der strammen Indierock-Single "Next big thing" operieren Slut auf "Alienation" oft weit fernab vom Schuss der krachgitarrigen Hits, mit denen sie zu Stoß- und Drangzeiten damals fast stündlich das Programm von onyx.tv bereicherten – oder das aufgeregte Clip- und Charts-Programm fast erträglich machten. Slut wagen sich weiter hinaus aus ihrer Komfortzone denn je, kappten schon in der Vorplanung zur Platte die meisten Sicherheits- und Reißleinen, die sie hätten zurückhalten können. Wer die Entfremdung sucht und zum Thema machen will, der darf nicht schon vor der eigenen Haustür mit der Spurensuche aufhören. Und so gingen Slut auf die Reise. Daheim ist, wo die Vorproduktion stattfindet – mehr nicht. Das vorhin erwähnte "Anybody have a roadmap?" nahmen Slut bei Produzent Olaf O.P.A.L in Bochum auf. Für zwei Stücke fuhren sie nach Hamburg weiter, richteten sich in den Electric Avenue Studios von Tobias Levin ein. "Silk road blues" heißt eines der zwei Stücke, die dort entstanden. Dafür lud Levin Ashraf Sharif Khan ein, einen Pakistani, der seine Sitar singen lässt, die letzten paar Minuten des Songs gar in einem endlosen Mantra für jene Sitar ausklingen lässt. Grenzwertig, wenn auch gewollt, natürlich. Im anderen Stück, "Idiot dancers", treffen Hallgitarren auf Slut-Melodien. Und alles ist wieder gut.

Ein paar Monate davor: In ihrem Proberaum in München hatten sich Slut einquartiert, vorproduziert, den Masterplan abgesteckt. Dann klopften sie bei allen Produzenten an, mit denen sie jemals eine Platte gemacht hatten: "Du, hör mal, meinst Du, wir könnten...?" Sie konnten. Sie mussten. Mit Mario Thaler nahmen sie in München und Stuttgart unter anderem das Titelstück von "Alienation" auf, ein Intimus mit sachte angeschlagenen Tasten in der Tradition von "Something to die for". In Berlin spielten sie bei Tobias Siebert mit "Never say nothing" vor, einem Song, in dem die Wummerbässe von Interpol Harmonien wie von Joy Divison unterachteln. Weiter ging's, immer weiter, nächster Halt: Weilheim in Bayern, die Alien Research Studios mit Oliver Zülch. Und dann: Slut scheiterten. Denn zwischen den gewollten Sollbruchstellen, die ihr Studio-Groundhopping und ihr Fremdeln mit dem Ungewöhnlichen provozieren sollte, tun sich bis auf einige mäßige Stil-Experimente keine Abgründe auf. Slut suchten die Entfremdung – und finden am Ende doch Slut. Was übrigens bemerkenswert okay so ist. Gerade, wo alles doch mit einem Stück Plastik für fünfzig Cent angefangen hat.

(Sven Cadario)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Next big thing
  • Remote controlled
  • Never say nothing

Tracklist

  1. Anybody have a roadmap?
  2. Next big thing
  3. Broke my backbone
  4. All show
  5. Alienation
  6. Silk road blues
  7. Remote controlled
  8. Deadlock
  9. Idiot dancers
  10. Nervous kind
  11. Never say nothing
  12. Holy end
Gesamtspielzeit: 49:08 min

Im Forum kommentieren

Takenot.tk

2017-06-23 15:55:29

Tolles Album. Besonders Silk Road Blues und Next Big Thing könnte ich immer wieder hören.

Thanksalot

2017-06-03 20:31:13

Hmm, nee. Irgendwie war der Albumtitel auch Programm. Hat mich immer regelrecht abgestoßen.

Fiep()

2017-05-24 08:16:13

Jup als album etwas zerfahren aber trotzdem sehr stark.


Fänds aber gut wen sie mal weniger songdienlich werden, was dabei dann raus schaut.

Robert G. Blume

2017-05-23 23:20:41

Looking forward to next writing session in Rome. #slutsnotdead

(Facebook)

Alienation läuft hier gerade wieder hoch und runter. Was für ein brillantes Album! All Show! Next Big Thing! Silk Road Blues! Nervous Kind!
Das Ding hätte direkt noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.

musie

2014-01-24 16:44:27

das album hat was. ein spätzünder. und der titelsong ist ja richtig richtig gut.

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