
Big Big Train - English electric part two
Giant Electric / EdelVÖ: 12.07.2013
Die Linderung
Nervenzerrend endlose Tonabfolgen ohne Punkt und Komma, dazu genötigt, wenig erheiternde Botschaften über soziale Missstände auszudrücken. Formal zuweilen hyperaktiv, inhaltlich seinem notorischen Zwang zur Welterklärung ausgeliefert. Kurzum: für normale Menschen nicht ohne psychopathologische Folgeschäden (oder Voraussetzungen) konsumierbar. Die Einstiegshürden in bestimmte Spielarten progressiver Musik überragen zuweilen die höchste Toleranzschwelle. Wenn etwa die aktuelle CD "Le sacre du travail" von The Tangent als "sozialkritikübendes Konzeptalbum vom Arbeitsleben in den westlichen Industrienationen und wie die dort vorherrschenden Rituale sowohl den Einzelnen von sich selbst als auch die Menschen voneinander entfremden" erzählt, lässt das auch den standhaftesten Chefredakteur reflexartig Reißaus nehmen.
Zum Glück ist bei Big Big Train und ihrer neuen Platte "English electric part two" alles halb so schlimm. Als sozialkritikübendes Konzeptalbum beschäftigt es sich mit der Rollenfindung des malochenden Arbeitnehmers während der Entwicklung Englands zur Industrienation. Und das schon zum zweiten Mal. Noch da, Herr Chefredakteur? Wie gesagt: Alles halb so schlimm! Okay, dass gleich zu Beginn ein sechzehnminütiger Longtrack lauert, fördert nicht gerade die Zuversicht. Doch "East coast racer" ist vollgepackt mit sämtlichen Qualitäten, die der bereits 1990 gegründeten Band spätestens seit ihrem 2009 erfolgten Durchbruch mit "The underfall yard" in so gut wie jeder Besprechung den seither quasi obligatorischen Genesis-Vergleich einbrachte. Und tatsächlich hat sich eine Referenz selten so aufgedrängt. Das liegt nicht nur am verwechselbaren Gesang David Longdons, es ist auch die am Perfektionismus kratzende, voll und ganz auf multimelodische Streicheleinheiten setzende Machart, durch die es "English electric part two" prinzipiell gelingen dürfte, auch unversöhnlich eingestellte Fachfremde in den Zug zu holen.
Mehr noch als beim ersten Teil setzen Big Big Train auf störungsfreien, harmoniebesessenen Prog-Rock der alten, aber keineswegs maroden Schule. Symptomatisch hierfür ist beispielsweise das weitschweifige "Swan hunter", bei dem David Longdon sein außerordentliches stimmliches Talent voll ausspielen kann. Der Hang zum Hymnenhaften kommt auch im anschließenden "Worked out" zum Vorschein. Wer jemals in die unwahrscheinliche Lage kommen sollte, für jemanden einen Sampler zum Kennenlernen des Genres zusammenstellen zu dürfen, sollte "Worked out" in die engere Auswahl einbeziehen. Bei anderen Bands erweist der Reichtum an Ideen der oft beschworenen Songdienlichkeit einen Bärendienst, aber hier gelingen den Briten siebeneinhalb unberechenbare, aber ungemein dichte Minuten. Das gilt auch für "Keeper of abbeys". Zunächst als vergnügter Mitsinghit beginnend, verfolgt es diese Richtung zwar leider nicht weiter, überzeugt im späteren Verlauf aber mit instrumenteller Vielseitigkeit. Wenig überraschend, dass sich auch "The permanent way" und "Curator of butterflies" keine Blöße geben. Auch hier schütten Big Big Train ein Füllhorn an traditionellen Trademarks aus. Was anderswo zu lebensbedrohlichem Frickelfieber führen würde, fördert hier im Gegenteil die Gesundheit der Gehörgänge. Insbesondere "Curator of butterflies" kommt fast schon tiefenentspannt daher. Ideal für Leute mit stressigen Berufen. Chefredakteure zum Beispiel.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Worked out
- Keeper of abbeys
- Curator of butterflies
Tracklist
- East coast racer
- Swan hunter
- Worked out
- Leopards
- Keeper of abbeys
- The permanent way
- Curator of butterflies
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