Fehlfarben - Xenophonie

Tapete / Indigo
VÖ: 18.05.2012
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Guttenberg-Bibel

Schwere Zeiten: Das Alter wird langsam zum Thema, die Gesellschaftskrankheiten fangen allmählich an zu eitern, und in der Agentur lief es auch schon einmal besser. Zumindest in der mit den knapp drei Millionen Mitgliedern. Da helfen weder "Glücksmaschinen" noch ein "Handbuch für die Welt" - Fehlfarben müssen ran. Nicht dass die Band um Peter Hein Patentrezepte anzubieten hätte - doch immerhin finden die Düsseldorfer bei der Suche nach dem richtigen Leben im falschen immer wieder verblüffende Dinge: Wut und Unsinn in Schlips und Kragen, aufregende Abenteuer bei der Jobbörse und auf dem eigenen Klo, vorsätzliche sprachliche Tatsachenverzerrungen. Aber immer schön den Kopf unten behalten, denn: "Wer lauter glaubt als erlaubt, dem wird auf das Haupt gehaut."

Keine üble Kampfansage zum vielleicht rockigsten Fehlfarben-Album seit dem 1980er Klassiker "Monarchie und Alltag". Die nuller Jahre sind gerade überstanden, da lärmt "Dekade 2" schon mit mächtigem Riff und aggressivem Uptempo drauflos und riskiert sogar einen Blick in die voraussichtlich nicht allzu goldenen Zwanziger. Auch die Single "Platz da!!!" marschiert skandierend und mit gesundem Selbstbewusstsein unverzüglich nach vorne. "Wir haben alles, und das auch wirklich verdient / Wir werden beim Bäcker stets als erste bedient" statt "Lassen Sie uns durch, wir sind Arzt". Doch wer nun wieder bloß vom krakeelenden Conferencier Hein und allenfalls von Keyboard-Legende Pyrolator oder DAF-Veteran Michael Kemner am Bass redet, vergisst eine Kernpersonalie auf "Xenophonie": Schlagzeugerin Saskia von Klitzing.

Sie ist es nämlich, die mit ihrem blechernen, voluminös in den Vordergrund gemischten Spiel nahezu alle Songs eindrucksvoll zusammenhält. Noch ein paar rohe Bretterbuden aus Gitarren und Saxophon gezimmert und diese mit Synthie-Mehlschwitze und melodietragenden Licks angestrichen - schon ist die Zeit wieder da, als man Neue Deutsche Welle noch für den letzten Schrei beim Friseur um die Ecke halten konnte. Zwar liegt auch heute ein Grauschleier aus Hartz IV und Sozialabbau über der Stadt - doch der Frontmann bleibt unbeeindruckt. "Ich muss doch schon lange nicht mehr probieren / Die Lage, wie sie ist, zu kommentieren / Ich hab doch lang genug gelebt vom Kopieren." Und kurz tauchen der entlassene Xerox-Mitarbeiter Hein und Karl-Theodor zu Guttenberg gemeinsam vor dem geistigen Auge auf. Vermutlich pure Absicht.

Doch das Hauptaugenmerk richtet "Xenophonie" wie üblich auf die Belange des Mannes auf der Straße beziehungsweise den Ämterfluren: Der tobende Rocker "Bundesagentur" endet mit dem Aufschrei "Ihr seid ARGE Scheiße" zugleich launig und erbost, "Hygieneporzellan" preist die Toilette als letzten Zufluchtsort, und der großartige elektronische Schleicher "Herbstwind" streift missmutig über viel zu früh aufgebaute Weihnachtsmärkte und benötigt wenig mehr als einen Keyboard-Loop und stimmliche Zerknirschung, um fast zehn Minuten bestmöglich zu füllen. Im Vergleich zu den bewusst kurz und knackig gehaltenen Songs zuvor fast schon eine kleine Sinfonie - allerdings ohne rettende Auflösung: "Manchmal hilft auch kein Fortuna-Schal." Und nicht einmal ein geklauter Elfmeterpunkt. Dieses Album aber umso mehr. Das ist die Wahrheit.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lang genug
  • Hygieneporzellan
  • Bundesagentur
  • Herbstwind

Tracklist

  1. Dekade 2
  2. Platz da!!!
  3. Glauberei
  4. Lang genug
  5. Richtig in falsch (NFS)
  6. Hygieneporzellan
  7. Bundesagentur
  8. TCM (Polychemie)
  9. The flag drops
  10. Das erklärts doch nicht
  11. Herbstwind
Gesamtspielzeit: 40:53 min

Im Forum kommentieren

Monarchie & Alltag

2013-07-04 21:24:35

Beste deutschsprachige Platte überhaupt!

kürer

2012-12-15 10:49:54

beste deutsche platte 2012.

afromme

2012-07-03 23:58:00

Echte Platte seit heute in den Händen. Nach erstmaligem Tatsächlichvollständigdurchhören eindeutig noch einen Tick besser als eh schon erwartet. Allerdings war ich vorher kein Fehlfarbenfan, d.h. Fehlfarbenfans können das jetzt alles ggf. doof finden, weil es ein Nichtfehlfarbenfan gut findet.
Sorry, zu viele Beiträge über Trolltaktiken und Verschwörungstheoriebasteleien gelesen heute (zwei an der Zahl), da bin ich gerade etwas paranoid.
Album jedenfalls: 8/10 bisher. Wobei ich eher eine Stabilisierung als eine Bewegung nach oben erwarte.

Castorp

2012-07-03 23:48:41

Jetzt hört doch mal rein, ihr Dösbaddels;D: http://soundcloud.com/tapete-records/sets/fehlfarben-xenophonie

Castorp

2012-07-01 15:41:34

Der Widerspruch! Der Widerspruch! Der Widerspruch tut jedem Leben gut!

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