Sigur Rós - Valtari

Parlophone / EMI
VÖ: 25.05.2012
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Ruhe nach dem Sturm

Eine Stunde. Was ist das schon? Eine Stunde kann immer zu kurz oder zu lang für etwas sein. Da denkt man, man kann sich noch etwas auf den Geschäftstermin vorbereiten, während man im Flieger von Frankfurt nach Berlin sitzt und ist nach kurzen Blicken ins Notizheft schon da. Eine Stunde im Wartezimmer beim Arzt sitzen, während die schmerzende Verletzung nicht plötzlich weniger weh tut, fühlt sich hingegen an wie eine Ewigkeit. Eine Stunde Zeit also gaben Sigur Rós ihren Zuhörern. 60 Minuten, in denen man an einem vorgegebenen Tag um eine vorgegebene Uhrzeit in das neue Album "Valtari" reinhören durfte. Wer zu spät kam, hatte Pech. Zudem riefen die Isländer dazu auf, doch bitte ein Foto davon zu machen, wie man diese Stunde verbracht hat. Die Bilder kann man seit einigen Tagen auf der Facebook-Seite der Band bestaunen, und alles mögliche sieht man da. Bilder von Menschen, die im Gras vorm Notebook sitzen. Blicke in die Ferne, verschiedene Landschaftsaufnahmen. Ein küssendes Pärchen, einer hat sogar einen Zettel mit "Thank you" eingesendet. Immerhin: Niemand scheint eingeschlafen zu sein. Allerdings hätte man das auch schlecht selbst fotografieren können.

Das klingt natürlich erstmal gemein. Beim ersten Hördurchgang von "Valtari" wartet man dennoch auf diesen Moment, in dem das ganze Album endlich zündet. Wie etwa ab der sechsten Minute von "Svefn-g-englar", als auch der letzte von "Ágætis byrjun" einfach begeistert sein musste, wenn das Herz denn dann noch schlug. Oder der Augenblick, wenn gut siebeneinhalb Minuten von "Festival" rum sind und "Með suð í eyrum við spilum endalaust" in einem Klangfeuerwerk förmlich in die Luft gesprengt wird. Auf diesen Zeitpunkt wartet man bei "Valtari" vergeblich. Die isländische "Dampfwalze" kommt nur schwer ins Rollen, zu langsam ist sie, um wirklichen Schaden anzurichten, und platt bleibt der Hörer danach auch nicht zurück. Vielmehr mit der ernüchternden Erkenntnis, dass Sigur Rós hier zum ersten Mal nicht für überwältigende Begeisterung, Herzklopfen und schweißnasse Hände sorgen.

Dabei fängt es ja gar nicht übel an. Der sphärische Einstieg mit "Ég anda" gelingt, Streicher läuten das Erwachen des Albums ein, Glocken und Knacken sind im Hintergrund zu hören, und ganz zum Schluss lässt sich gut und gerne vorstellen, dass das schwere Gefährt den Motor angestellt hat. Doch statt des stürmischen Getöses, das man bisher gewohnt war, folgt dann doch nur leidvolle Ruhe. Dabei hätte alles auch durchaus so wie immer sein können. Die leisen Pianoklänge auf "Rembihnútur", Jónsis Gesang, der klingt, als wäre er ein paar Welten links vom Mars aufgenommen worden, und schließlich der Industrial-Beat in der zweiten Hälfte des Stücks, bei dem Schlagzeuger Orri Páll Dýrason endlich mal Arbeit bekommt. Auch "Rembihnútur" präsentiert sich im bekannten Gewand, das Stück stöhnt und keucht und reißt den Hörer auf ebenso qualvolle wie erleichternde Art mit.

"Valtari" ist in diesem Sinne nur schwer nachzuvollziehen. Kaum vorstellbar, wie man das Highlight des Albums, "Dauðalogn", einfach irgendwo in der Mitte platzieren konnte. Ausgerechnet den einen Song, der sich anhört wie Geburt, Tod und Auferstehung zugleich, der es zumindest für seine Spielzeit von sechseinhalb Minuten schafft, dem Zuhörer den Atem zu rauben, der auf so wunderbar unpolternde Weise für Aussetzer des eigenen Herzschlags sorgt, wird lieblos vor die schwächste Stelle des Albums gesetzt. Denn eben diese folgt mit den letzten Songs der Platte, die sich auch mit den schönen ersten Klängen von "Varðeldur" nicht mehr weiter beschönigen lassen. Der Dampfwalze "Valtari" geht schon kurz vor Schluss die Puste aus. Doch vielleicht haben wir das alles auch nur geträumt.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Ekki múkk
  • Rembihnútur
  • Dauðalogn

Tracklist

  1. Ég anda
  2. Ekki múkk
  3. Varúð
  4. Rembihnútur
  5. Dauðalogn
  6. Varðeldur
  7. Valtari
  8. Fjögur píanó
Gesamtspielzeit: 54:35 min

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MopedTobias (Marvin)

2021-01-13 15:37:56

Der zweite Song ist richtig toll.

The MACHINA of God

2021-01-13 15:29:03

Ich liebe dieses Album... zumindest wenn ich in der richtigen Stimmung dafür bin. Aber dieses obengenannte "transzendierende" finde ich wunderbar. Im Prinzip ist das ja ähnlich den ersten 5 Stücken von "( )", nur während dort eben noch drei härtere Brocken kamen, löst sich "Valtari" gegen Ende hin immer mehr auf. Defintiv auch recht gewagt das Album, da sie ja damals schon ziemlich groß waren und das Album sicher einige verstoßen hat.

MopedTobias (Marvin)

2018-08-21 10:19:32

Mag die auch sehr, auch wenn die wirklich extrem stimmungsabhängig ist und am Schluss etwas übertreibt. Dabei ist der Titelsong an sich sogar eins der Highlights mit seinem Glockensound.

Old Nobody

2018-08-21 00:54:22

"Ich mag Valtari. Weniger für seine Songs, als für seine transzendierende Stimmung. Das ist etwas was ich hören mag, wenn ich nichts anderes hören mag. Auch die Titelreihenfolge ist völlig nachvollziehbar in ihrem Willen zur Selbstauflösung"


Sehr schön gesagt. Kann ich unterschreiben. Es fällt bis auf Varuo, was ein vollkommen unglaubliches Stück ist und das nachfolgende Rembihnutur,was für mich das Lowlight ist, schwer einzelne Songs zu bewerten.Die Gesamtstimmung steht im Vordergrund,besonders in der zweiten Hälfte.Da ist das gradezu ein Schwebezustand. Ich war seinerzeit wegen der ausgeprägten Zurückgenommenheit auch erstmal enttäuscht,wollte mehr von den Stampfern haben. Aber mit der Zeit habe ich das ganze mehr und mehr zu schätzen gelernt.
Allein schon wie das anfängt mit diesem Chor,der dann auf dem Album immer wieder auftaucht, hat teilweise was sakrales.Erinnert mich manchmal auch an die frühe Enya,insbesondere Daudalogn.
Dann dieses Piano bei Varoeldur,so unfassbar schönes Stück mit diesem etwas ambient-haften. Und dann noch dieser Gesang oben drauf.Absolute Gänsehaut.Der Gesang bzw die Stimme hat übrigens was von Max Richters "Path".
Die letzten beiden sind für mich wie gesagt Schwebezustand. Das zieht einfach total und am besten in absoluter Dunkelheit. Wie beim Titelstück die Streicher einsetzen und wie sich das in aller Zurückgenommenheit trotzdem aufbaut

In der richtigen Stimmung ist das gradezu markerschütternd in seiner Stille,die aber eben, dabei grade besonders häufig kritsiert, besonders hintenraus so eine unbeschreibliche Soghaftigkeit entwickelt.
Gigantisch

Bin eigentlich immer mal wieder so bei ner 8,aber wenn es wie jetzt einfach vollkommen passt,bin ich geneigt sogar über die 9 hinaus zu gehen.
Bin wie schon bei Kveikur von diesem Durchlauf hin und weg

Nilo

2017-11-23 23:05:58

Ja, man muss noch mal eine Lanze für dieses Album brechen. So eine wundervoll tröstend-in-sich-ruhende Atmosphäre. Vor allem die zweite Albumhälfte! Unfassbar, wie die das hinbekommen haben. Ein paar Drone-Sounds, ein paar Piano-Tupfer ... und doch bin ich vollkommen ergriffen.

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