I Like Trains - The shallows

ILR / Cargo
VÖ: 11.05.2012
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Fahrt zur Hölle!

Es ist ein bisschen so wie damals, als man am Meer stand und sich überlegte, ob man nicht einfach mal bis zum Horizont schwimmen sollte. Klamotten runter vom Leib, den Fuß ins Wasser und immer weiter, bis der ganze Dreck abgewaschen ist. Ein Kampf gegen die Wellen, gegen die Kraft, gegen die eigene Menschlichkeit. Dort, wo die Schmerzgrenze des Menschen verläuft, zwischen Tragödien, Sehnsucht und Schwermut, dort, wo die Seele kauert und ihr trauriges Dasein fristet, dort haben sich I Like Trains eingenistet, um ihre unbarmherzigen Lieder zu spielen. Sie spielen sie so lange, bis der Abgrund keinen Schritt mehr entfernt ist.

Eine ganze Weile geht das nun schon so. Genauer gesagt seit 2006, als die EP "Progress reform" veröffentlicht wurde und ein Video namens "Terra nova" im Internet auftauchte. Jeder, der es sah, war der Band sofort verfallen. Mit "The shallows" sind I Like Trains nun dort angekommen, wo man sie in diesem Leben nicht mehr vermutet hätte: im grellen Licht, bei leichten Gitarren, seichten Keyboards und weichen Rhythmen. Kein Zorn mehr, keine Krise, keine Selbstverstümmelung. Hat man noch den schweren Brocken von "He who saw the deep" in den Knochen, stolpert man geradewegs über das leichte "Beacons". Doch schon riecht man den Braten. Was für ein gemeines Täuschungsmanöver.

Ganz am Anfang schlägt ein elektronisches Geisterschlagzeug, das schwer nach New Order klingt. David Martin flüstert seine traurigen Zeilen über mechanische Keyboards und macht dem Hörer unmissverständlich klar: "In den nächsten vierzig Minuten zeigen wir Dir die Hölle!" Es ist eine Ansage, die von Herzen kommt. Denn mit eiskalten Melodien und erbarmungslosen Arrangements haben I Like Trains ein manisches Stoßgebet komponiert. Was hier kommt, frisst sich tief in die Seele und macht depressiv. Die Single "Mnemosyne", der Titelsong, der große Abschluss "In tongues" - es sind Lieder, die die Galle zum Brennen bringen. Und das mit einer scheinbaren Leichtigkeit, unter der ein reißender Fluss menschlicher Albträume rauscht, der sich nach und nach an die Oberfläche spült. Die Diktatur der Technologie ist das übergeordnete Thema. Ist der Mensch längst selbst zur Maschine verkommen, getrieben vom Druck der Computerwelt? Was sind unsere Erinnerungen wert, wenn wir sie bloß im Gedächtnis des Internets abladen? Hecheln wir dem binären Takt des sozial-medialen Wahns hinterher? Die Band aus Leeds analysiert mit klaren Sinnen den Untergang des Abendlandes und hat dafür einen kühlen elektronischen Soundtrack konzipiert. I Like Trains erzählen keine historischen Miniaturen, sondern dekonstruieren die Piraten in uns allen. In "Mnemosyne" singt Dave Martin: "We will burn in hell for this" - und das Blut gefriert in den Adern. "Mnemosyne" ist der Name der Göttin der Erinnerung der griechischen Mythologie: Längst lodert der Mensch im ersten Höllenkreis.

Die Flächen sind größer, das Crescendo nicht mehr bloß Zufall, sondern Kalkulation. Alles ist kalt wie Beton. Ist das noch Postrock? Oder schon längst Postpunk und Wave? Es ist ein Konzept, das I Like Trains auf "The shallows" verfolgen: Nicht bloß die kulturellen Errungenschaften des Menschen, vielmehr der Mensch an sich steht auf dem Spiel, wenn er das Menschsein verlernt. Mit Rückgriffen auf den Futurismus, mit dystopischen und repressiven Wahnvorstellungen wird hier ein Monolith von Album heraufbeschworen, das aufgrund seiner musikalischen Intensität nicht nur den Geist anspricht. "The shallows" ist unverzichtbar.

(Christian Preußer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Mnemosyne
  • The shallows
  • In tongues

Tracklist

  1. Beacons
  2. Mnemosyne
  3. The shallows
  4. Water / sand
  5. The hive
  6. The turning of the bones
  7. Reykjavik
  8. We used to talk
  9. In tongues
Gesamtspielzeit: 41:50 min

Im Forum kommentieren

Leech85

2021-04-01 18:26:12

Vor kurzem das Album wiedermal gehört. Ist einfach klasse,vor allem Reykjavik. Damals als das Album rauskam fand ich es nicht mal so gut. Nun sieht dies jedoch ganz anders aus. Für mich etwas besser als Kompromat. Aber nur knapp.
Allerdings gefallen mir I like Trains auch heute noch am besten wenn sie Songs wir Terra Nova schreiben.

Euroboy

2016-10-02 13:45:22

Hört sich gut an, der neue Song, nur solche Instrumentalen PostRock Sachen klingen immer sehr nach Mogwai.

Würde mich sehr über einen richtigen Nachfolger zu der tollen "The Shallows" freuen.

Pivo

2016-09-29 13:05:48

Es gibt neues Futter für die Fans von I like Trains...!!!! Es wurde in den letzten Monaten immer wieder von einem Film gesprochen, der inzwischen wohl auch fertig ist und der die Zeit vor dem Album "He who saw the deep" beleuchtet und dokumentiert. Zum Film kann ich nichts sagen.

Allerding kann man den Soundtrack über Bandcamp vorbestellen (VÖ: Anfang Dezember 2016) der, natürlich, neue Musik von den Jungs aus Leeds beinhaltet. 11 Stücke sind drauf und den ersten Song "Bethesda" kann man schon streamen. Er ist rein instrumental und geht gute 8 Minuten. Ich würde ihn als klassischen I like Trains-Song beschreiben. Der Fan erkennt nach wenigen Sekunden wo er ist und woher der Song kommt.
Ob die übrigen Songs auch nur instrumental sind kann ich nicht sagen, gehe allerdings schwer davon aus.

Pivo

2016-05-10 11:21:37

Auf der Facebook-Seite der Band kündigt sich eine vage Hoffnung an:

Sie spielen ein Konzert beim Wave-Gothik-Treffen in Leipzig und dort soll auch neues Material zu hören sein....... Da könnte sich doch bald etwas in Richtung neues Album tun...... Zeit wäre es ja mal..... :-)

bat

2012-10-31 11:10:26

Hab sie in Köln Live gesehen. Großartig!
Hat mich total positiv überrascht

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