Mary Ocher - War songs
Haute Areal / CargoVÖ: 11.03.2011
Die Freak-Show
Echte Freaks sind rar. Zwar wird man gerade in den In-Bezirken der Großstädte von Affektionen, Exaltiertheiten und kultiviertem Slacker-Hedonismus förmlich überschwemmt. Doch dieses vom Wunsch nach Geltung und Aufmerksamkeit durchdrungene Wochenend-Freaktum ist oft eine allzu offensichtliche Pose, die Gutbürgerlichkeit und Durchschnitt nur mühsam kaschiert. Das zweite Gesicht derjenigen, die mit sich wegen ihres Anzug-Jobs oder des ererbten Wohlstands nicht im Reinen sind. Kein Wunder also, wenn es die Exzentrik nicht bis in den Arbeitsalltag oder in Vier-Augen-Gespräche schafft: Wer nicht wirklich so ist, hält das nicht durch. Das wird um so deutlicher, wenn mal jemand die Bühne betritt, für den Anderssein keine Lifestyle-Entscheidung darstellt, sondern bestenfalls eine Methode, mit dem eigenen Ich umzugehen. Jemand wie Mary Ocher.
Schon ihr Äußeres dürfte weniger gefestigte Menschen provozieren: Ocher sieht aus wie ein missglückte Neuschöpfung aus Nina Hagen und Transvestit, durchgeführt mit dem Kleider- und Schminke-Fundus eines aufgelösten Bauerntheaters aus dem Ostblock und nach Anleitung feministischer Pamphlete aus einer 1980er-Ausgabe der "Emma". Zu dem phänomenalen Mut zur Hässlichkeit zwischen "überschminkt" und "unrasiert" gesellt sich eine Biographie, für die aus Schwaben zugezogene Neuköllner mit Bausparvertrag vielleicht töten würden: geboren 1986 in Moskau, aufgewachsen in Tel Aviv und dort mit ihrer Band Mary And The Baby Cheeses zu Underground-Ruhm gekommen, mittlerweile als Musikerin, Lyrikerin und Malerin in Berlin zuhause.
"War songs" ist ein betörend sperriges Konzept-Album zum Thema Krieg und Patriarchat (wobei sich Ocher bereits über den Versuch des links-intellektuellen Magazins "Konkret" amüsiert hat, ihren Individualismus als feministische Kritik zu deuten): In der Tradition des Protest-Folks und zahlreicher starker Frauenfiguren entwickelt Ocher puristische Klagelieder, die mal zu akustischer Gitarre wie in "Martin Eden (Wiki wiki)", mal zu giftiger Verzerrung wie in "Six dead white men" und meistens irgendwo im halb-elektrischen Dazwischen aus der weiblichen Perspektive über männliche Gewalt reflektieren. Was Ocher dazu mit ihrer Stimme macht, fällt nicht zwingend an jeder Stelle in die Rubrik "Gesang": Sie kiekst, wiehert, spricht halb, stößt spitze Schreie hervor, kippt ins Kreischen und singt im nächsten Moment wieder tief und kehlig - behält aber immer eine ganz eigentümliche Ausdruckskraft.
Vom Trash-Look der stolzen Außenseiter-Diva und der teils kruden Präsentation ihrer Songs sollte man sich dabei nicht blenden lassen: Ochers Stücke sind viel kunstfertiger, viel stringenter, viel durchkomponierter, als die Künstlerin mutmaßlich selbst zugeben würde. Eine traurige Ballade wie "Trampoline" mag vielleicht schräg sein, zufällig oder dilettantisch ist sie nicht. Und auch der sonore Klavierkörper der heimlichen Indie-Hymne "On the streets of hard labour" ist ohne eine gerütteltes Maß an Talent und handwerklicher Fertigkeit so perfekt einfach nicht hinzubekommen. Was Mary Ocher mit "War songs" anbietet, ist ein ungeschliffener Rohdiamant der Andersartigkeit, die in Punk und Folk zunächst eine Haltung und keine Modeerscheinung erkennt. So etwas lohnt sich zu unterstützen. Echte Freaks sind rar.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Trampoline
- Rules, guidelines and the law
- On the streets of hard labour
Tracklist
- Don't come running
- Martin Eden (Wiki wiki)
- Socialite
- Six dead white men
- In all guilt and glory
- Advocate of evil
- Them, nomads
- Smallheads
- General springer
- Trampoline
- The sound of war
- Rules, guidelines and the law
- On the streets of hard labour
- They come from the hills