Crystal Castles - Crystal Castles

Last Gang / Fiction / Polydor
VÖ: 21.05.2010
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Musenkuss mit Kettensäge

Was machen Musiker eigentlich, um nach Album eins Inspiration für Album zwei zu finden? Ethan Kath von Crystal Castles scheint die eine oder andere Ausgabe der Future-Trance-Sampler zwecks Musenkuss gewählt zu haben. Anders ist nicht zu erklären, wieso er auf "Baptism" die bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Kreischstimme seiner Frontfrau Alice Glass mit dem größenwahnsinnigem Synthiegestotter dieser Ballerbudenmusik anreichert. Andererseits schrecken Crystal Castles ja auch sonst nicht vor Krassheiten zurück. Andernfalls würden sie nicht den sphärischen Trancepop von "Celestial" zwischen zwei Lärmorgien klemmen, von denen sich "Doe deer" gar als einer der besten Songs des Albums entpuppt. Mitten im disharmonischen Synthiedauerfeuer stehend schreit Glass wie der Leibhaftige, den irgendein Jesuitenpater gerade aus ihrem Körper auszutreiben versucht. Tja, und dann kommt "Baptism" und es ist klar, auf wen hier der Teufel übergesprungen ist.

Überraschenderweise sind die Noiseattacken damit schon weitgehend überstanden. Wo auf dem ebenfalls nur "Crystal Castles" betitelten Debütalbum noch bei jedem dritten Stück Kleinholz anfiel, lässt das Duo von nun an die Kettensäge im Geigenkoffer. Nach dem industriellen, schwer an seinem verzerrten Bass schleppenden "Year of silence" entschweben sie stattdessen mit dem Synthesizerwirbel und den künstlichen Handclaps von "Empathy" und dem an M83 erinnernden "Suffocation" in höhere Sphären.

Zum netten Spießerpärchen von nebenan sind Kath und Glass damit aber noch nicht geworden. Allerdings fungieren ihre Ausbrüche diesmal nur als kurze disharmonische Störfeuer innerhalb der Songs statt als anderthalbminütige Zwischendurch-Amokläufe, was der Kohärenz des Albums angesichts der Zerrissenheit des Erstlings nur gut tut. Geblieben ist hingegen die morbide 8-Bit-Traurigkeit: Alle zwischenzeitliche Losgelöstheit entpuppt sich als unerfüllte Sehnsucht, die mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne liegt.

Unmittelbar zupackende Hits wollen sich aber anders als beim Debüt nicht so recht einstellen. Die Platte wirkt eher durch ihre Ausgeglichenheit. Das sakral angehauchte "Vietnam" mit Moroder-Stotterbass als fahrbarem Untersatz wäre neben "Celestial" immerhin noch ein Kandidat. "Not in love" hingegen bleibt trotz übergroßer, theatralischer Breitwandsynthies gegen Ende eine Spur zu offensichtlich. Die Arpeggios des eher housigen, ein wenig an einen gezähmten Vitalic erinnernden Instrumentals "Intimate" fräsen sich da schon nachdrücklicher ins Gehirn. "I am made of chalk" beschließt dann mit digital verzerrten Tiergeräuschen dieses Album, das mit zehn Minuten weniger Spielzeit noch besser wäre, allerdings auch in dieser Form einer eher unter Eintagsfliege einsortierten Band nicht unbedingt zuzutrauen war. Aber wenn man nichts erwartet, ist es ja ohnehin immer am schönsten.

(Harald Jakobs)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Celestica
  • Suffocation
  • Vietnam
  • Intimate

Tracklist

  1. Fainting spells
  2. Celestica
  3. Doe deer
  4. Baptism
  5. Year of silence
  6. Empathy
  7. Suffocation
  8. Violent dreams
  9. Vietnam
  10. Birds
  11. Pap smear
  12. Not in love
  13. Intimate
  14. I am made of chalk
Gesamtspielzeit: 52:50 min

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum