Hans Unstern - Kratz Dich raus

Nein, Gelassenheit / Staatsakt / Rough Trade
VÖ: 16.04.2010
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

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Ein unscharfer Zausel blickt Dir mitten ins Gesicht. Er besitzt einen zerfransten, mehrfarbigen Bart und seltsam treue Augen unter den dezent verwuschelten Locken. Es wird sich wohl um Hans Unstern handeln, denn das Schwarzweiß-Bild prangt auf dessen Albumdebüt "Kratz Dich raus". Seit drei Jahren warten Eingeweihte auf diesen Tonträger. Warum? Das, was einmal zur Resignations-Hymne "Paris" werden sollte, hatte sie begeistert. Ein Song, der mitten im Album steht und Emotionen mit Assoziationen einengt. Die sperrige Lyrik wirkt wie ein Abzählreim für Stoiker. Ein zweifelnder Sänger hofft, dass er mit Hilfe eines handelsüblich gestrichelten Mondgesichts lernt, ein geliebtes Antlitz zu vergessen. Wunderbar.

Überhaupt "Paris": Das großartige Video faszinierte bereits, und die muntere Coverversion von Ja, Panik auf der gemeinsamen Split-EP macht der Hymne auch noch Tanzbeine. Aber hier geht's ja um Unstern und sein Album. Das wehrt sich bereits zum Start gegen Bekömmlichkeit. "Anglet" stottert, bricht, taumelt und schreddert an konfus erscheinenden Zeilen über Automobilfeindschaft, künstlerisches Schaffen, Naturalismus und Koksrausch vorbei. "Ich liege so krumm / Und falte mir die Ohren dicht / Nachts ist manchmal für fünf Minuten Ruhe."

Wer sich von diesem bisschen Dilettanz abschrecken lässt, hat "Endlos endlos" nicht verdient. Unstern säuselt hier mit jungenhafter Stimme und erzählt von dem Traum, bei dem er ihr Kleid trägt und sie seinen Bart. Selten war Desorientierung so romantisch. Dann nagen Dissonanzen an den Saiten, und das Feedback befeuert einen Song, der mittendrin mit straighten Beats hypnotisiert und zum befriedigenden Schluss ein Freejazz-Saxophon abschlachtet. "Der kaputte Mann kotzt in die Metro / Er hat sich die Spielregeln neu beigebracht / Er wiederholt das alte Lied der schiefen Töne." Wären alle Songs so großartig zerfahren wie "Flecken", hätte nicht nur Spex-Hausen einen neuen Helden.

Dass Unstern dabei gelegentlich wie der aussätzige Bruder von Pascal Finkenauer klingt, dessen Lyrizismen ja auch nicht frei von Interpretationsbedarf sind, macht das Geschehen umso spaßiger. Dabei geht es auf "Kratz Dich raus" nicht um so etwas Profanes wie Unterhaltung. Immer wieder werden städtische Erfahrungen und Verstörungen in nebulöse Klänge transformiert. "Ich höre meinen Namen, wie er von den Wänden hallt." Es geht um Isolation, um Traumata und um Fantasterei. "Ich wende mich Skeletten zu / Weil sich sehe, wie gut Dir das tut." Das darf bei aller Morbidität auch gerne nur von entrückter Gitarre, Harfe und Mundharmonika begleitet werden. "Kratz Dich raus" ist voll von solcher Eigenart und Rätselhaftigkeit. Zwischenzeitlicher Wohlklang ist die Nadel im Heuhafen. Unsterns Musik ist nichts für Aufmerksamkeitsdefiziteure.

(Oliver Ding)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Anglet
  • Endlos endlos
  • Paris
  • Flecken

Tracklist

  1. Anglet
  2. Endlos endlos
  3. Interlude
  4. Paris
  5. Flecken
  6. Tief unter der Elbe
  7. San Simon
  8. Ein Coversong
Gesamtspielzeit: 37:23 min

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