Holly Miranda - The magician's private library

XL / Beggars / Indigo
VÖ: 26.02.2010
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Tja, liebe Eltern, so kann's gehen: Da meint man es doch wirklich nur gut, schleppt das Töchterchen fünf Mal die Woche in die Kirche, verbietet die ganze Teufelsmusik, MTV und all den anderen gottlosen Kram und lässt die Kleine großzügig mit 16 in den Ferien zu ihrer älteren Schwester nach New York City fliegen. Und dann ruft dieses Gör doch tatsächlich nicht nur an, um brav ihre wohlbehaltene Ankunft zu verkünden oder eventuell zu beklagen, dass sie ihren Bärchenpyjama vergessen hat, sondern um kurz und knapp mitzuteilen, dass sie nicht gedenkt, zurückzukommen. Um das Ärgernis komplett zu machen, wird sie dann auch noch lesbisch, singt in einer Band mit dem unflätigen Namen The Jealous Girlfriends, tingelt mit ihren eigenen Songs durch die New Yorker Clubs und holt die unfreiwillige Rundfunkabstinenz ihrer Kindheit und Jugend gleich doppelt nach, indem sie sich mit Dave Sitek von TV On The Radio anfreundet - der dann schließlich einige Jahre später ihr Debüt-Album "The magician's private library" produziert.

Wenn das konservative Korsett nicht so haltbar wäre, müssten Mirandas Eltern daheim in Detroit eigentlich vor Stolz platzen: Sie sang mit Scott Matthew das wunderbare Duett "Dog" auf dessen letztem Album "There is an ocean that divides...", Kanye West pries begeistert und vollkommen zurecht ihren Song "Slow burn treason" in seinem Blog an, sie tourte unermüdlich, sogar auch in Europa, mit The Antlers, The Xx, Nada Surf und Tegan And Sara, und hat ein Erstlingswerk vorgelegt, nach dessen Genuss man erst einmal beichten gehen möchte. Weil so viel ätherische Schönheit schließlich Sünde sein muss, ganz zu schweigen von Textzeilen wie "All you want is her eyes on you / All you need is one hand deep inside." Aber keine Sorge, werte Sittenwächter, in "The magician's private library" wartet dann doch mehr Synthie als Sünde und mehr Märchenclub als Pärchenclub. Letzteres ist vor allem Mirandas betörender Stimme und Siteks verwunschener Produktion zu verdanken.

Mirandas Eltern würden sagen: Kind, wir haben es geahnt! Der Einfluss von TV On The Radio auf ihr Debütalbum ist unüberhörbar. Nicht zuletzt, weil Tunde Adebimpe im großartigen "Forest green oh forest green" mitsingt, Jaleel Bunton instrumental mitmischt und Kyp Malone im erwähnten "Slow burn treason" in Strophe zwei als Co-Vokalist einsteigt. Die sorgfältig geknüpften Synthie-Teppiche, die Bläser, die Beats, die Samples, die Streicher, die Glöckchen, der Hall - all das ist schon sehr TV On The Radio. Aber was wäre ein Märchenwald ohne Rotkäppchen, Sterntaler oder Goldmarie? Dass derlei Geschichten in ihrer Kindheit bestimmt auch Tabu waren, merkt man Miranda nicht an. Sie phantasiert und phrasiert geradezu himmlisch, hängt bunte Luftballons an einzelne Silben, baut Höhlen und Aussichtstürme für andere und singt mit einer konzentrierten Hingabe, die einer Meditation gleichkommt. Zehn Lieder, die sie alle im Alleingang geschrieben hat und die auch ohne Siteks Abrakadabra noch ihren Zauber hätten.

"The magician's private library" beginnt mit dem über allem thronenden "Forest green oh forest green", das die durchaus philosophische Frage "Who's got nothing to run from?" in den höchsten Baumwipfel hängt und sich dann von einem kunstvollen Arrangement zum nächsten schwingt. Von pastellfarbenen Nebelschwaden aus Synthesizern und Zuckerwatte über euphorische Kinderliedhymnik und ergreifenden Harmoniegesang hin zu herrlich idyllischen Bläsern, die Rhythmik und Melodie gleichermaßen huldigen. Auch "Joints" und "Waves" schwelgen und schweben, suhlen sich in Entschleunigung, sonischer Magie und pulsierenden Drums, zelebrieren Effekte und Atmosphäre. Und gerade als man glaubt, ihre Tricks zu kennen, zaubert Miranda "No one just is" aus dem Hut - mit einer beinahe obszönen Basslinie, einem kirren Keyboard, das fernöstlich anmutende Streicher imitiert, und einer keineswegs jugendfreien Intonation. Ihre Eltern würden ihr wahrscheinlich sofort eine kleben. Natürlich nur eine "Parental advisory - explicit content"-Plakette. Und dann würden sie hektisch eine Heiligenfigur aus dem Regal nehmen - um Platz zu schaffen. Für dieses göttliche Album.

(Ina Simone Mautz)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Forest green oh forest green
  • Joints
  • No one just is
  • Slow burn treason

Tracklist

  1. Forest green oh forest green
  2. Joints
  3. Waves
  4. No one just is
  5. Slow burn treason
  6. Sweet dreams
  7. Everytime I go to sleep
  8. High tide
  9. Canvas
  10. Sleep on fire
Gesamtspielzeit: 42:32 min

Im Forum kommentieren

The MACHINA of God

2020-04-28 00:58:24

10 Jahre später kann ich mich bzgl. "Slow burn treason" nur selbst zitieren:

Diese Stelle bei 4:07, wenn sich nach dem wiederholten "who's gonna feel you... who's gonna need you" auf einmal das "who's gonna hold you" in die höhe schwingt und über allem thront. gänsehaut.

Leatherface

2015-06-01 15:32:01

Das ist in der Tat ein sehr schönes neues Album, wenn auch etwas konventioneller als der Vorgänger.

Wolf

2015-05-27 11:04:36

Aber die neue wird ADW :-))

Leatherface

2010-04-05 13:51:44

Ach, wenn das Album doch nur nach der ersten Hälfte nicht so nachlassen würde. Erst 5 Songs, die allesamt ins Rennen um den Song des Jahres gehen, danach 5 schwächere Songs, die teilweise in Siteks Sound-Gewirr absaufen. Von Sweet Dreams etwa ist auch nach dem 20. Durchlauf nicht mehr als die Bläser hängen geblieben.

ToRNOuTLaW

2010-03-09 12:55:51

Mirandas Cover im Black Cab erinnert mich daran, wie großartig Lauryn Hill ist.

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