Tocotronic - Schall und Wahn

Rock-O-Tronic / Vertigo / Universal
VÖ: 22.01.2010
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Bedeutungs Schwager

Wer zuletzt sein vermeintliches Meisterwerk veröffentlicht hat, hat häufig ein Problem. Wer aber schon als unbeschwerter Jüngling alle Probleme öffentlich abgekanzelhandelt hat, ist dem längst entwachsen. Tocotronic entziehen sich seit "K.O.O.K." erfolgreich den Erwartungshaltungen. Sie spielen Inhalt und Form gegeneinander aus, und verloren sich auch schon mal in den romantischen Nebeln des weißen "Tocotronic"-Album. Auf "Schall und Wahn" kümmert sich der Vierer weiter um den ganz eigenen Gedankenkreis aus Chiffren, Metaphernspielen und Kunstzitaten. Der Albumtitel geht auf den Literaturnobelpreisträger William Faulkner zurück, welcher seinen Namen einer Familiensaga wiederum bei Shakespeares "Macbeth" entlehnte. Faulkner konstruierte sein Hauptwerk um die inneren Monologe dreier Personen, in denen die lose Chronologie durch Rückblenden zusätzlich ausgehöhlt wurde und damit symbolisch für den Untergang der Familie Compson stand. Wo könnten Tocotronic anders beginnen als direkt auf der Metaebene?

Nach der gefeierten Selbstaufgabe von "Kapitulation" entdecken Dirk von Lowtzows Verse neue Verweigerungsmöglichkeiten. "Eure Liebe tötet mich" befreit sich aus der Umarmung der Anhängerschaft. "Auch wenn ihr bereut / Ich verzeihe euch nicht", schwelgt er zu wachsenden Gitarrenwänden. Es weht der Stallgeruch von Dinosaur Jr. herüber, und J. Mascis' graue Matte drängt sich der hanseatischen Bruderschaft als Seitenscheitelersatz förmlich auf. "Ein leiser Hauch von Terror" rumpelt aufgeregt an klaren Botschaften vorbei, stellt sich aber klar als Rock auf - jenseits aller Breitbeinigkeit. Moses Schneiders Produktion verweigert sich auf Anweisung der Band albernem Dicke-Hose-Getue, Arne Zanks Rhythmen sind von angenehmer Luschigkeit. Tocotronic sind schließlich überzeugte Dandys - eine verschworene Freimaurerloge, die lieber auf den geliebten Rotwein verzichten würde statt jemals ein Dosenbier anzufassen.

"Oh, schönster Neid und schönste Gier / Schönste Feigheit bleibt bei mir." Eindringlingen werden Textbröckchen hingeworfen, die sich mal als sprühbare Parolen und mal als heimtückische Fußangeln entpuppen. Zwischen rätselhaftem Pathos und zärtlichem Spott fallen wieder wunderbar abseitige Zeilen auf: "Ich bin der Graf von Monte Schizo / Und ich singe diesen Hit so." Tocotronic nehmen die diskursverliebte Anhängerschar bewusst auf den Arm, was als Haltung einen herrlichen Widerspruch zu "Macht es nicht selbst" darstellt. Fulminant wird dort vermeintlich selbstbestimmtes Handeln diskreditiert. "Heim- und Netzwerkerei stehlen dir deine schöne Zeit." Denn: "Wer zuviel selber macht, wird schließlich dumm / Ausgenommen Selbstbefriedigung." Wer will, darf aus dem "Oh, when the saints go marching in"-Zitat gleich noch eine versteckte Religionskritik basteln. Der Rest freut sich über herrlichen Garagen-Lärm.

Die Tocotronic immer wieder vergeblich angelastete Deutungshoheit perlt an der Band ab wie von Lotusblättern. Anhand des martialischen Vokabulars ("Terror", "Blut", "Folter", "Tyrann" und "Gift"), das im Space-Hardcore-Tumult "Stürmt das Schloss" gipfelt, lässt sich revolutionäres Gedankengut unterstellen. Wohin der Angriff aber wirklich zielt, wird erfolgreich in mehrdimensionale Wolken gehüllt, und der angetäuschte Bogen zu Castingshows ist angemessen abseitig. Weil die Worte so sorgsam gewählt sind, sorgt die gleichzeitig wachsende Bedeutungsambivalenz für Reibung. Wer nämlich bei eigentlich klarer Begrifflichkeit immer weitere Interpretationsmöglichkeiten schafft, ist entweder naiver Dilettant oder weises Genie. Tocotronic reklamieren beides für sich. "Bitte oszillieren sie / Zwischen den Polen Bumms und Bi!" Wenn die Band jetzt "Schall und Wahn" zusammen mit "Pure Vernunft darf niemals siegen" und "Kapitulation" zur Berliner Trilogie der Band verklärt, ist das natürlich dreist geschummelt. Irony is dermaßen over, dass sie schon wieder elementare Voraussetzung wurde: Postironie ist die parallele Existenz von Anmaßung, Protest und Schabernack. "Zu dieser Schicksalssymphonie werdet ihr alle / In der Hölle schmoren." Das Unbegreifliche entfaltet immer größere Faszination, weil man sich jetzt näher am Begriff wähnt als je zuvor. Und sich dennoch nie sicher sein will, weil das Werk dann seinen Reiz verlöre.

Nachdem die beiden Vorgänger homogene Ästhetiken ausformulierten, wagen Tocotronic auf "Schall und Wahn" wieder klangliche Opulenz. Verhuschter Folk gelingt hier ebenso wie schlurfender Indierock, smithsiges Dandytum, psychedelische Flirts und scheppernder Slackerlärm. Die verschrobene Überheblichkeit "Die Folter endet nie" weidet sich an JaKönigJas Bläsern, und dank der verrätselten Streicherarrangements des australischen Avantgarde-Komponisten Thomas Meadowcroft gewinnen "Das Blut an meinen Händen", das sanft zaudernde "Im Zweifel für den Zweifel" und das zum Albumende davon schwebende "Gift" an Anbetungswürdigkeit. So ist "Schall und Wahn" eine überaus effektive Re-"Kapitulation" - und gleichzeitig auch alles andere. Da mag von Lowtzow lautstark "Keine Meisterwerke mehr" fordern, aber was soll der Rezipient tun, wenn sich die Band weiterhin keinerlei Fehltritte erlaubt? Wer mit hemmungslos gereimten Halbklarheiten den Verstand um den Finger wickelt, muss mit allen Neuronen geliebt werden. Und da Zusammenhänge ohnehin ignoriert werden sollen, darf diese höfliche Formulierung zweckentfremdet werden: "Ich bitte Sie / Genießen Sie."

(Oliver Ding)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Eure Liebe tötet mich
  • Bitte oszillieren sie
  • Schall und Wahn
  • Im Zweifel für den Zweifel
  • Keine Meisterwerke mehr

Tracklist

  1. Eure Liebe tötet mich
  2. Ein leiser Hauch von Terror
  3. Die Folter endet nie
  4. Das Blut an meinen Händen
  5. Macht es nicht selbst
  6. Bitte oszillieren sie
  7. Schall und Wahn
  8. Im Zweifel für den Zweifel
  9. Keine Meisterwerke mehr
  10. Stürmt das Schloss
  11. Gesang des Tyrannen
  12. Gift
Gesamtspielzeit: 56:49 min

Im Forum kommentieren

ZoranTosic

2022-02-20 17:05:56

Für mich auch eines der besten Tocotronic Alben.

1. Eure Liebe tötet mich 10/10
2. Ein leiser Hauch von Terror 9/10
3. Die Folter endet nie 8/10
4. Das Blut an meinen Händen 6,5/10
5. Macht es nicht selbst 8,5/10
6. Bitte oszillieren sie 6/10
7. Schall und Wahn 10/10
8. Im Zweifel für den Zweifel 10/10
9. Keine Meisterwerke mehr 9,5/10
10. Stürmt das Schloss 9/10
11. Gesang des Tyrannen 8,5/10
12. Gift 10/10

Alleine für "Eure Liebe tötet mich" würde das Album mit auf die Insel kommen.

stativision

2022-02-20 12:45:48

Das letzte richtig gute (a.k.a. mindestens 8/10) Album der Band. Schnüff.

Mr. Fritte

2022-02-20 12:18:08

Ja, ein ganzes Album im Stil des Openers/Closers wär ein Traum.

The MACHINA of God

2022-02-20 01:13:57

Die letzten 2 Minuten der Platte sind mit die besten Minuten der Band überhaupt. Was für ein paar Gitarrenwelten. Generell: Opener und Closer absolut grandios. Hätten sie viel mehr machen sollen.

Mr Oh so

2022-02-02 22:23:50

Musikalisch sehe ich da eine 3/10 schon gerechtfertigt. Mit dem Text habe ich mich nicht beschäftigt. Aber wenn das ein Highlight des Albums sein soll ...

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