Vic Chesnutt - Skitter on take-off

Rykodisc / Warner
VÖ: 27.11.2009
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Hartgespült

(Aus aktuellem Anlass gleich eine Klammer vor der eigentlichen Rezension: Diese ist weit vor dem 25. Dezember 2009 entstanden, dem Tag, als Vic Chesnutt seinem Erdendasein für immer Adieu sagte. Für einen außenstehenden Musikkonsumenten, der keinerlei Einblick in Privates hat und sich maximal auf zwielichtige Verschwörungstheorien stützen kann, wären weiterführende Gedanken zum Tode des Menschen Vic Chesnutt anmaßend. Bis auf einen: "Skitter on take-Off" ist ohne Wenn und Aber seine letzte Veröffentlichung. Und damit ist wohl auch die traurigste aller Realitäten für den Hörer ausgesprochen: Dass ein geschätztes Künstlerdasein mit diesem Tage ein Ende findet. Keine Vorfreude, kein Warten, kein fortgeführtes Analysieren mehr. Seine Platten aber bleiben. Ruhe in Frieden, Vic!)

Für einen enthusiastischen Musikkonsumenten ist es ein Naturgesetz, jedes neue Album, das es mit Blut, Schweiß und Tränen ins heimische Wiedergabegerät geschafft hat, in den Kontext der vorangegangenen Werke des jeweiligen Künstlers zu stellen. Je nachdem, wie man sich geschmäcklerisch zu eben jenem Musiker verhält, wird man auch gelegentlich die Vermutung anstellen, dass das Vorliegende schlicht zur Deckung der Lebenserhaltungskosten veröffentlicht wurde. Ist man jedoch dem Künstler zugeneigt, wird man von dieser Annahme Abstand nehmen, so dass die diskographischen Querverweise nur so sprießen können.

In seiner amerikanischen Heimat hat es gerade einmal drei Wochen gedauert, bis Vic Chesnutts formidables "At the cut" mit "Skitter on take-off" einen Nachfolger gefunden hat. Den erwähnten Verschwörungstheorien kann gleich einmal der Wind aus den Segeln genommen werden, denn nicht Chesnutt selbst ist für die Entstehung des Albums verantwortlich, sondern niemand Geringeres als Jonathan Richman. Ihm und seinem treuen, trommelnden Begleiter Tommy Larkin kam auf einer langanhaltenden US-Tour nämlich die glänzende Idee, doch einmal ein Album mit ihrem ohnehin schon entfernten Freund aufzunehmen. Schnell wurde Nägel mit Köpfen gemacht und "Skitter on take-off" in Rekordzeit fertiggestellt.

Man muss sich ein wenig gedulden, um den Einfluss von Richman und Larkin zu erkennen, die nicht nur ihr Produktionsequipment mitbrachten, sondern auch ihr musikalisches Können an Gitarre, Bass und Drums. "Society Sue" ist im Gegensatz zum staubtrockenen, gänzlich unarrangierten Rest eine großspurige, schmissige und unverschämt eingängige Rock'n'Roll-Nummer. Richmans einnehmender Variationsreichtum an der spanischen Gitarre tritt erstmals in den Vordergrund und paart sich perfekt mit Chesnutts stoischem Organ. Larkins auf wenig Akzente bedachtes und stets symphatisch-infantiles Drumspiel belebt dabei den Hintergrund. Blickt man aber hinter die Fassade, bleibt es bei einem energiegeladenen Stück in Low Fidelity, das sich nur dadurch abhebt, dass zum ersten Mal so etwas wie ein Melodiebogen zu erkennen ist.

Der Rest ist schwer durchschaubarer, zynischer wie sarkastischer Tobak, dem man weitaus mehr Aufmerksamkeit schenken muss, bevor sich versteckte Schönheiten entfalten können. Was in "My new life" zugegebenermaßen eher schwer fällt, wenn Chesnutt wie ein begossener Pudel seine Einsamkeit betrauert und erst zum Ende hin laut krächzend die Stimme erhebt, um die Marschroute für ein neues Leben zu bekunden. Auch in der siebenminütigen, sich endlos dahinziehenden Auflistung abgefuckter Freunde, die sich wenig überraschend "Worst friend" nennt, sucht man erfüllende Ästhetik im Songwriting vergeblich.

Was dieses Projekt dennoch sympathisch und lohnenswert macht und damit zu mehr als einem reinen Kostendeckungsfaktor, ist der freiheitliche Geist von Chesnutt & Co., mit dem sie sämtlichen Erwartungshaltungen einen gehörigen Dämpfer verpassen. Eine Herangehensweise, bei der es weniger auf das Endprodukt ankommt als auf den lückenlos dokumentierten Weg zum Ziel. Der zwar steinig ist, weswegen aber Chesnutts tiefgehende Lyrics um so mehr ins Fleisch schneiden. Ohne besänftigende Zugeständnisse und den erwarteten melodischen Puffer.

(Markus Wollmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Dimples
  • Society Sue

Tracklist

  1. Feast in the time of plague
  2. Unpacking my suitcase
  3. Dimples
  4. Rips in the fabric
  5. Society Sue
  6. My new life
  7. Dick Cheney
  8. Worst friend
  9. Sewing machine
Gesamtspielzeit: 39:07 min

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