David Gray - Draw the line

IHT / Polydor / Universal
VÖ: 02.10.2009
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Die Routine-Untersuchung

Geht ein David-Gray-Album zum Arzt. Sagt der Arzt: "Wie schön, Sie waren ja auch schon lange nicht mehr da!" Antwortet das David-Gray-Album: "Ja, ist jetzt vier Jahre her." Folgert der Arzt: "Na, dann lief in der Zwischenzeit wohl alles rund bei Ihnen, was?" Der Longplayer blickt aus dem Fenster, und der Medizinmann weiß Bescheid. Er fragt nicht weiter. Denn über manche Dinge sollte man besser schweigen. Zum Beispiel darüber, wie er dem David-Gray-Album damals "Life in slow motion" als Anti-Stress-Mittel verordnen wollte und dann aus Versehen eine Packung Schlaftabletten erwischte. Fragt der Arzt stattdessen also fröhlich: "Was fehlt uns denn heute?" Antwortet das David-Gray-Album: "Ich komme nur zur Routine-Untersuchung." Sagt der Arzt: "Na prima, da werden wir bestimmt fündig." Fragt die Sprechstundenhilfe: "Herr Doktor, soll ich den Patient jetzt zum Röntgen bringen?" Entgegnet der Arzt: "Nicht nötig, das hören wir auch so."

"Draw the line" beginnt mit einem äußerst kräftigen Herzschlag und das Stethoskop verrät, dass der Schrittmacher ein gewisser Keith Prior am Schlagzeug ist. Dem aufmerksamen Booklet-Leser wird auffallen: Dieser Name ist neu. Und nicht nur der - Gray hat fast seine komplette Band ausgetauscht, weil ihm die alte zu eingespielt war. Seine Stimmbänder durften aber glücklicherweise bleiben - und klingen besser denn je. Dieser Gesang, bei dem man ruhig mal die Klischeevokabel "intensiv" bemühen darf, thront nach wie vor über allem. Nachdem Gray die neue Ära mit einem erstaunlich unpeinlichen "yeah" begrüßt hat, steckt das Klavier präzise den ersten Song ab. Nicht gerade wie zu eroberndes Terrain auf einer Landkarte, sondern eher wie ein zu langes Cordhosenbein vor dem Umnähen. Der Kreislauf kommt trotzdem in Schwung, und drei Sekunden vor Schluss gelingt es sogar noch einer Bryan-Adams-Gitarre, sich ins Bild zu mogeln. Sie gehört da natürlich überhaupt nicht hin, aber setzt immerhin ein Zeichen: Hier könnte was gehen, acht Jahre nach Grays bislang bestem Werk "White ladder".

Einen Song später geht dann auch wirklich was. Nämlich die Hoffnung darauf, dass er neben seiner Band eventuell auch seine Songschablonen erneuert haben könnte. Also alles beim Alten. Wobei der Titeltrack doch neue Maßstäbe setzt: So spröde hat noch keiner seiner Songs geklungen. Ob es Zufall ist, dass die griechische Rachegöttin "Nemesis" ihren Auftritt direkt danach hat? Man weiß es nicht. Aber es wird schnell klar: Dieses Lied hat ein paar so bezaubernde Momente, dass man gerne über die weniger spektakulären Stellen hinweghört. Hörner aquarellieren sanft, die Gitarre trudelt traumhaft selbstvergessen, und die Melodie findet am Strophenende den vielleicht idyllischsten Weg der ganzen Platte. Nur der Refrain kommt nicht so richtig hinterher, und das ist beim nachfolgenden "Jackdaw" leider genauso: Es beginnt mit einem vielversprechenden Pianomotiv und klimpert sich dann in die Belanglosigkeit, irgendwo zwischen irischem Volkslied und leicht vergilbtem Eckkneipenschunkler.

"Kathleen" hat da schon mehr zu bieten: perlendes Piano, einen Hauch von Country, und hier und da ein Hauchen von Gastsängerin Jolie Holland. Gray behauptet übrigens, der Song habe einen "Cat-Stevens-Vibe", und da kann man ihm tatsächlich nicht widersprechen. Sondern möchte der hübschen, aber doch sehr zurückhaltenden "Kathleen" sofort Stevens' "Don't be shy" vorspielen. "First chance" fällt durch seine perkussive Ursprünglichkeit auf, "Harder" ist der mit Abstand düsterste Song auf "Draw the line" und "Transformation" eine in sich ruhende Meditation am Flügel, die sich den keineswegs überflüssigen Luxus eines Gospelchors leistet. Als Siebziger-Jahre-Elton-John verkleidet singt Gray seiner Muse "Stella the artist" ein Ständchen - vermutlich in der Hoffnung, dass sie begeistert "Stellar, the artist!" säuselt. Und das wäre in diesem Fall gar nicht mal unangebracht. Stattdessen meldet sich Annie Lennox im episch-orchestralen Finale "Full steam ahead" als erstklassige Duettpartnerin zu Wort. Fragt das David-Gray-Album den Arzt: "Herr Doktor, wie steht es denn nun um mich?" Sagt der Arzt: "Routiniert wie eh und je, aber ein paar Abnutzungserscheinungen. Machen Sie sich bitte frei."

(Ina Simone Mautz)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Fugitive
  • Nemesis
  • Stella the artist
  • Full steam ahead

Tracklist

  1. Fugitive
  2. Draw the line
  3. Nemesis
  4. Jackdaw
  5. Kathleen
  6. First chance
  7. Harder
  8. Transformation
  9. Stella the artist
  10. Breathe
  11. Full steam ahead
Gesamtspielzeit: 47:01 min

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