Jay Reatard - Watch me fall
Matador / Beggars / IndigoVÖ: 14.08.2009
Drüber, drunter und durch
Na, na, na - warum guckt der denn so böse? Wer hat ihn so weiß angestrichen? Und vor allem: Weshalb befinden sich seine Augen gerade mal auf Schulterhöhe? Zu viele Nackenschläge von der Frau Mama? Leidet da jemand an dem schlimmsten Haltungsschaden seit Michael Madsen? Oder drückt Jay Reatard gar die schwere Bürde seiner explosionsartigen Popularität das Kinn auf die Brust? Ach was. Nach diversen Singles-Compilations und Bandprojekten, nach all den Vorschusslorbeeren und in die Knie gegangenen Label-Servern bleibt Reatard - ganz im Gegensatz zur Cover-Pose - locker und gelassen. Er nennt sein lang erwartetes Zweitwerk unter eigener Flagge einfach mal "Watch me fall". Lacht sich eins ins bleiche Fäustchen. Und macht einfach weiter wie bisher. Nun ja, fast.
Der Garage-Noise, all das Dängeln, Schreddern und Pfeifen, wurde auf "Watch me fall" konsequent wegproduziert. Geblieben aber sind: die Mod-Punk- und Power-Pop-Riffs; die runden, mit Achteltriolen unter die Deckung des Songs kriechenden Bässe; und die Minimelodien auf der Leadgitarre, die noch die griffigsten Akkorde zu ungeahnter Melancholie treiben. In der Kommunikation dieser Ebenen schafft es Reatard, zugleich in die Tiefe seiner Songs zu blicken und ihre Oberfläche auf Hochglanz zu polieren. Deshalb wippen sie beständig auf und ab. Obwohl sie eigentlich nur straight nach vorne gehen.
Denn natürlich ist "Watch me fall" ebenso 1-2-3-4 und gutes, altes Drei-Akkord-Geschrubbe. Zudem probiert sich Reatard im Durchhalten der allerkleinsten musikalischen Form. Zweimal Strophe, zweimal Refrain. Dann ein Break, noch mal Refrain und gut und Schluss. Drüber geht es kaum einmal. Reatards Songs machen sich so in der Tat noch kleiner als ohnehin schon. Und haben es eben doch faustdick hinter den Ohren. Gerade in den erwähnten Breaks schaffen sie es stets, noch eine Schippe draufzulegen - nur um wenig später ins Altbekannte zurückzuwippen, als sei gar nichts weiter passiert.
So nehmen "Rotten mind" und "I'm watching you" mit einigen verhallten Surf-Rock-Sechzehnteln noch mal ordentlich Fahrt auf. Das Gitarrenfeedback von "Can't do it anymore" reizt den neuen, cleanen Sound bis aufs Blut, während "It ain't gonna save me" in ein Modest-Mouse-Shanty desertiert. Auch den Folk-Rock von "My reality" lässt Reatard periodisch in schwermütige Einzeiler wegbrechen. Mit ihnen pendelt der Song katatonisch aus, holt dabei unmerklich Schwung und springt schließlich um so energischer in die nächste Strophe. Aus dem 80er Jahre Pop-Punk der Marke Senseless Things entspinnt "Hang them all" eine ähnlich gestrickte Schiffsschaukel. Und "Before I was caught" genügen einige Backgroundchöre, um den Song auf der Zielgeraden erneut zum Wippen zu bringen.
"There is no sun" ist schließlich ein Emo-Folk-Kracher, der - jammernde Streicher inklusive - eindeutiger und kickender nicht gespielt werden könnte. Ein Lied, das in all seiner Klarheit zu einem weiteren Statement der größten kleinen Gesten wird. "Watch me fall" steckt letztlich voll davon. Sprich: In Wahrheit ist es ein wahrlich dicker Schalk im Nacken, der Reatard den Kopf zwischen die Schultern drückt. Auch er selbst schaukelt beständig vor und zurück. Das Coverfoto und seine Songs sind Schnappschüsse davon. Gestochen scharf aus der Bewegung in die Zeit gestanzt. Und beinahe beunruhigend gut.
Highlights & Tracklist
Highlights
- It ain't gonna save me
- I'm watching you
- Hang them all
- There is no sun
Tracklist
- It ain't gonna save me
- Before I was caught
- Man of steel
- Can't do it anymore
- Faking it
- I'm watching you
- Wounded
- Rotten mind
- Nothing now
- My reality
- Hang them all
- There is no sun
Referenzen
Spotify
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