Lou Reed - Berlin: Live at St. Ann's Warehouse
Matador / Beggars / IndigoVÖ: 24.10.2008
Nach dem Selbstmord
Lou Reed hat nie behauptet, berühmter als Jesus zu sein, und er ist auch nicht als selbsternannter goldener Gott von einem Hausdach gesprungen. Die Bescheidenheit aber haben trotzdem andere erfunden. So verteidigt Reed etwa seine "Metal machine music" noch heute als visionäre Vorwegnahme des Konzepts Loop und sagt nun über die Liveversion seines dritten Soloalbums "Berlin": Hat zwar 33 Jahre gedauert, ist jetzt aber ein Meisterwerk. Vorher wurde die Platte leidenschaftlich zerrissen, als Akt der Verweigerung nach dem verblüffenden Erfolg von "Walk on the wild side" abgetan und manchmal auch zum deprimierendsten Album der Rockgeschichte erklärt. Muss man also kurz vor Weihnachten auf die Bühne bringen, hat Reed vielleicht gedacht.
Nach gewohnt minutiösen Planungen und erschöpfenden Proben war es 2006 schließlich so weit: Reed paarte eine dekorierte Veteranenband mit Neuentdeckung Antony Hegarty, verpflichtete "Berlin"-Produzent Bob Ezrin abermals als Sounddirektor, ließ Edelfan Julian Schnabel ("Schmetterling und Taucherglocke") den begleitenden Konzertfilm drehen und bot sich außerdem als umsichtiger Kummerkasten-Onkel für einen zwölfköpfigen Jugendchor aus Brooklyn an, der nun das große Hosianna zu "Berlin: Live at St. Ann's Warehouse" singt. Bis zur fertigen CD-Version, die aus zwei der vier Konzertabenden zusammengestellt wurde, hat es noch mal zwei Jahre gedauert - der Witz am Anfang ist aber immer noch gut.
"Ein Prosit der Gemütlichkeit" kommt vom Band, dann "Happy birthday", wie im Original, und schließlich, wir sind jetzt live auf Sendung, das zärtlich-verliebte Titelstück, an dem noch niemand erkennen kann, in welchen Schlamassel das suizidale Berliner Junkie-Pärchen Caroline und Jim in den nächsten 75 Minuten geraten wird. Reed hat sich entschieden, das ohnehin schon aufgeplusterte, direkt neben Größenwahn und Melodrama geparkte Ursprungsalbum noch einmal ein gutes Stück hochzujazzen. Manchen Passagen der Show haftet deshalb eine Musicalhaftigkeit an, wegen der man instinktiv auf die schlecht simulierte Landung eines Plastikhubschraubers im Bühnenhintergrund warten will. Die Power des ganzen Vorhabens ist aber unbestreitbar, wenn Reed zum trockenen Donnern seiner Band durch Zeilen wie "A rich son waits for his father to die" wütet.
Es mag an seinem Benehmen liegen, der wie gewohnt ärmellosen Garderobe oder doch seiner Stimme, die paradoxerweise heute so viel kräftiger und fester klingt als zu Beginn der siebziger Jahre: Reed strahlt mittlerweile eine Grobschlächtigkeit aus, die auch seinem Live-"Berlin" schon mal dazwischenfährt und oft sogar sehr gut tut. Zu den verletzlichen Liedern der letzten beiden Velvet-Underground-Alben und weiten Teilen seiner Solokarriere steht dieses Metzgerhafte trotzdem quer, woran nach dem Ende des Pflichtteils mit einer spektakulären "Sad song"-Version vor allem "Candy says" erinnert. Im Duett mit Antony wird es zum leisesten, behutsamsten Song der Platte und baut eine Brücke in die Vergangenheit, die über die Tatsache hinausführt, dass hier uralte Lieder in aufgemotzten Fassungen gespielt werden. Man möchte es altersmilde nennen - aber nur natürlich, weil Reed es nie erfahren wird.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Caroline says II
- The bed
- Sad song
- Candy says
Tracklist
- Intro
- Berlin
- Lady day
- Men of good fortune
- Caroline says I
- How do you think it feels
- Oh Jim
- Caroline says II
- The kids
- The bed
- Sad song
- Candy says (with Antony)
- Rock minuet
- Sweet Jane
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