Jimmy Eat World - Bleed American
Dreamworks / Motor / UniversalVÖ: 27.08.2001
American Beauty
Geschichten, die das Leben schreibt, gibt es im knallharten Musikbiz nicht mehr viele. Die von Jimmy Eat World ist eine solche. Zunächst avancierte das Quartett aus Mesa, Arizona beinahe widerwillig zu abgefeierten Ikonen einer Szene, die sich "Emo" auf die Brust geschrieben hatte und der sich Jimmy Eat World nach eigener Aussage niemals so richtig zugehörig fühlten. Erst viel später, als sich die vier die allzu eng anliegenden Genre-Windeln abstreiften, entwickelten sie sich vom Geheimtip gewitzter Schatzsucher zu nearly Everybody's Darling. "Clarity" - ein absolutes Meisterwerk, das in seiner haltlosen Euphorie und verschrobenen Wunderbarkeit glitzert wie der Polarstern in einer wolkenlosen Winternacht, brachte Jimmy Eat World die Abkehr vom Status des Insidertips hin zum greifbaren Erfolg auf breiter Ebene. Und das in diesem Fall völlig zurecht.
Nach den schlechten Erfahrungen mit unzureichender Promotion-Arbeit und einer haarsträubenden Veröffentlichungs-Politik bei ihrem alten Label, die dazu führte, daß man den brillianten Vorgänger hierzulande erst mit zweijähriger Verspätung in Händen halten konnte, suchte sich die Band in der Zwischenzeit eine neue Bleibe und kam bei Steven Spielbergs "Dreamworks"-Label unter. Währenddessen wurde bereits mit feinstem Garn am Nachfolger von "Clarity" gewebt, der jetzt unter dem Namen "Bleed American" das Licht der Sonne erblickt und es, wie nicht unbedingt zu erwarten, aber doch mindestens zu erhoffen war, nicht weniger in sich hat.
Anstatt sich auf die bewährte schwelgende Einzigartigkeit zu verlassen und sich dem Vorwurf einer Selbstkopie auszusetzen, nimmt das Chamäleon Jimmy Eat World mit "Bleed American" schon wieder eine neue, hell erstrahlende Farbe an. Nicht mehr die elegischen Schwanengesänge von "Clarity" stellen die vier auf "Bleed American" in den Vordergrund, sondern den emotionalen Popsong in seiner Perfektion, ohne daß dieser auch nur einen Funken von seiner Schönheit einbüßt. Der Himmel hängt trotz der Konzentration auf das Wesentliche immer noch voller Geigen, während das Begeisterungsfeuerwerk es zustande bringt, von einem Kracher zum nächsten überzuleiten. Schon der vorab ausgekoppelte, knallige Titeltrack explodiert nicht nur aufgrund des feurigen Textes in solch schillernden Farben und zackigen Mustern, daß ein Flächenbrand in einer Sprengstoffabrik dagegen wie ein lahmes Pfadfinder-Lagerfeuerchen wirkt.
"If you still care at all, don't go tell me now" - ein Song wie "Your house" bringt selbst gestandene Männer zum hemmungslosen Schluchzen. Das sind echte Gefühle - ungekünstelt, dem Hörer schutzlos ausgeliefert und splitterfasernackt bis auf die Knochen. Mit "Sweetness" kündigt sich dank atemberaubender Gesangsharmonien, harscher Gitarren und Zeilen wie "Stumble until you crawl / Sinking into sweet uncertainty" vielleicht Jimmys größter Hit ever an. "If you don't, don't" vergeht sich in bittersüßer 80er-Glückseligkeit, während "A praise chorus" abgedroschene Gassenhauer wie "Our house" (Madness) oder "Crimson & clover" (Tommy James & The Shondells) zu einem wunderbaren neuen verwebt. Auch wenn manche Songs wie das punkpoppige "The middle" oder der luftig swingende "Authority song" nach dem ersten Eindruck für mittelmäßig befunden werden, ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis sie sich dauerhaft in Herz und Hirn eingebrannt haben.
Mit "Hear you me", "Cautioners" und dem finalen "My sundown" finden sich schließlich doch noch drei sanfte Klagelieder, die der von "Clarity" bestens bekannten Schwermut frönen. Wenn am Ende von "My sundown" das klimpernde Klavier begleitet von Jim Adkins Worten "Good good bye / Good good night" zum schweren Abschied auf unbestimmte Zeit winkt, reicht auch die Familien-Packung Taschentücher nicht mehr aus, um den sturzbachartigen Fluten gerecht zu werden. Sich treiben zu lassen im Fluß der eigenen Tränen - wo könnte das besser funktionieren als in den treibenden Strömen von Jimmy Eat World? So weit die Ohren tragen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Bleed American
- Sweetness
- Hear you me
Tracklist
- Bleed American
- A praise chorus
- The middle
- Your house
- Sweetness
- Hear you me
- If you don't, don't
- Get it faster
- Cautioners
- The authority song
- My sundown
Im Forum kommentieren
jo
2022-08-18 22:25:51
Denke auch, dass es relativ behutsam bearbeitet wurde. Sind schon coole Sessions - und "Session" passt eigentlich auch jeweils als Titel.
Max der Musikliebhaber
2022-08-18 14:34:19
Kann ich Dir nur ans Herz legen. :)
Vor dem Hintergrund, was Jo sagte, ist jedenfalls von einer Bearbeitung auszugehen; nur schwer zu beurteilen, in welcher Stärke. Aber wie Du schon sagst: Die Livequalitäten der Band sind top. (; konnte mich bei meinem Konzertbesuch vor ca. zehn Jahren nur leider nicht immer ganz auf die Musik konzentrieren, da mich das körperlich aktive Publikum leicht überforderte :D). Und daher kann es gut sein, dass die ggf. mit einer noch nachträglich vorgenommenen Abmischung verbundene Bearbeitung nur relativ behutsam erfolgte. Lass gerne wissen, wie Du den Sound der Phoenix Sessions findest. :)
rainy april day
2022-08-17 02:20:43
Werde in die Phoenix Sessions definitiv mal reinhauen. Mich stört bei vielen Live- bzw. Konzertaufnahmen ja häufig der (in meinen Ohren) suboptimale Sound und da bin ich gerade bei JEW gespannt wie die Aufnahmen klingen, da ich sie vor einigen Jahren mal in der Live Music Hall gesehen habe und sie da mit absolut meilenweitem Abstand den besten Sound hatten den ich je auf einem Konzert hatte.
Max der Musikliebhaber
2022-08-17 01:06:26
Okay, Deine Reaktion bzw. Enttäuschung kann ich verstehen.
Man kann die Sessions nicht mit einem JEW-Konzertbesuch vergleichen, und es wäre zumindest in bestimmter Hinsicht schöner (und m. E. auch möglich) gewesen, wenn die Sessions jeweils einfach nur auf einer Liveübertragung basiert hätten. So ist alles doch extrem ästhetisch geworden.
Aber ich freue mich, dass wir den neuen Versionen trotz ihrer Problematik etwas Positives abgewinnen können. (:
jo
2022-08-15 22:05:51
Nö, Jo. Was im Studio aufgenommen wird, wird im Studio aufgenommen und bearbeitet und ist eben nicht live.
Da vergisst du aber die Kategorie "Live im Studio" eingespielt - und da sehe ich zwischen den on-the-fly-bearbeiteten Phoenix Sessions und ebendieser Kategorie nicht wirklich Unterschiede. Hören kann man sie - wahrscheinlich zumindest, wenn man nicht gerade im Studio arbeitet - ebenso nicht.
Meine Kategorie war ja auch außerdem nur "steril" - und das können beide sein.
Die Interpunktion tut mir trotzdem leid. Ein Fragezeichen hätte genügt - ist mir übrigens direkt nach dem Abschicken aufgefallen, aber ich dachte: "Wird schon nicht so negativ aufgenommen, da es ja nicht so gemeint war." ;)
Ich merke aber auch, dass das alles halt irgendwie Geschmacksache ist bzw. es Dinge gibt, die dem einen wichtig sind, wohingegen andere sie für unnötig befinden. :D
Das ist für mich völlig okay, und es ist nicht mein Ansinnen, hier irgendwen zu triggern oder mit irgendwem Stress zu haben. (:
Da stimme ich auch komplett zu, habe ich auch nicht so aufgefasst. Ich finde eben nur, dass es schon eher die Art "Linkin-Park-Live-Album" ist, bei der das "Live-Feeling" letztlich etwas auf der Strecke bleibt. Dennoch machen mir die neuen Versionen Spaß - und ich freue mich natürlich, wenn sie anderen auch Spaß machen; egal, aus welchen Gründen :).
Vielleicht empfinde ich das auch zusätzlich so, weil ich die Sessions live am TV verfolgt hatte und dabei letztlich ob der Performance (auch an den Schnitten war zu erkennen, dass es nicht wirklich "live" war und gerade in dem Moment passierte/übertragen wurde) etwas "underwhelmed" war.
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