Jay Reatard - Matador Singles '08
Matador / Beggars / IndigoVÖ: 17.10.2008
Der Folk-Verhetzer
Jay Reatards Output hinterzuhören ist in etwa so aussichtsreich, wie ein Eichhörnchen bei der Lektüre der Morgenzeitung zu erwischen. Tonnen von Vinyl und Polycarbonat tragen schon seinen Namen oder den seiner zahlreichen Band- und Nebenprojekte. Seit 1998 hat es ihm dabei insbesondere das gute, alte Single-Format angetan. Reatard badet darin, ja, erbricht es kaskadenweise - jedenfalls, wenn man Vor- und Rückcover der aktuellen Singlesammlung glauben darf. Die fasst A- wie B-Seiten seiner sechs Matador-7-Inches aus 2008 zu einem handlichen Brocken zusammen. Und das schon im Oktober? Fauler Sack? Nein, Reatard arbeitet inzwischen eifrig an seinem zweiten, offiziellen Sololangspieler. Und zur Überbrückung ist "Matador Singles '08" nun wahrlich mehr als gut geeignet.
Die kurzen Produktionsphasen setzt Reatard dabei im besten Sinne in einen inneren Überdruck um. Seine Songs wirken gehetzt, aber nie unfertig; anspruchslos, aber doch randvoll mit allem, was ein ordentlicher Garagen-Popper zum Durchdrehen braucht. Die Arrangements sind ausgefuchst, jedoch nie überladen, die Rhythmik zeigt sich ebenso abwechslungsreich wie ungestüm. Und der Sound knattert und crasht wie zu Noise-Pops besten Zeiten - wie bei jungfräulichen Dinosaur Jr. oder einst bei Superchunk.
Ob die fröhlich aufstrebenden "Always wanting more" oder "An ugly death", das melancholisch geradeaus rockende "See/saw" oder die echten Punker wie "Hiding hole" und "DOA": Alles wirkt innerlich getrieben und aufgewiegelt, fügt sich dadurch allerdings perfekt in den Albumkontext. Reatards hochgefuzzte Soli erinnern zunächst natürlich an J Mascis, in all ihrer Spartanik aber auch an die Ein-Finger-Effektivität der frühen The Clash. Die uplifting Keyboard-Melodien verleihen dem Ganzen den gewissen Power-Pop-Appeal, der sich durch die immer wieder durchstechenden mehrstimmigen Refrains noch machtvoller nach oben drückt. Darunter trifft sich meist nicht mehr als ein einzelner Akkord mit Stakkato-Gesang zum Schlammcatchen, während die auf allen Soundebenen zerkratzten Folk-Verhetzer "No time" und "You were sleeping" den Bright Eyes oder Modest Mouse Schwimmflügel verleihen - um doch kurz vor dem Indie-Rock-Wasserballett in Richtung Ozean abzubiegen.
Selbst das Deerhunter-Cover "Fluorescent grey" bekommt seinen struppig überkandidelten Einlauf verpasst. Der Dampfhammer-Hall des Originals krächzt sich unter Reatards Phrasierung die Backen blutig, sodass weniger Hymne, dafür mehr Konsequenz hinten rauskommt. Ganz so, wie es Reatard wünscht und "Matador Singles '08" braucht, um als wund geschlagene Einheit zu funktionieren. Gespannt, was als Nächstes kommt, bringt der Wintervorrat dieser Zusammenstellung sicher ins nächste Jahr. Mit Folk-Verhetzung statt Volkstümelei. Zu übervollen Hamsterbacken - und Schwimmflügeln im freien Fall.
Highlights & Tracklist
Highlights
- See/saw
- An ugly death
- Always wanting more
- No time
Tracklist
- See/saw
- Screaming hand
- Painted shut
- An ugly death
- Always wanting more
- You mean nothing to me
- Fluorescent grey
- Trapped here
- Hiding hole
- DOA
- No time
- You were sleeping
- I'm watching you
Referenzen
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