Deichkind - Arbeit nervt

Vertigo / Universal
VÖ: 17.10.2008
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Hertz IV

Party-Völker, hört die Signale. Nach der erfolgreichen Band-Asozialisation spendieren Deichkind dem selbst kreierten Kosmos aus Lust, Laster und Lotterleben mit "Arbeit nervt" den programmatischen Überbau. Hertz für Hartz IV, fies und düster pumpen die rehabilitierten 90er-Billigbeats gegen die Faulenzer-Fürsprachen an. Ein "Dicker Bauch" lugt unter dem speckigen T-Shirt hervor, promiskuitive Couchpotatoes wollen nichts außer Sonja Kraus gucken und feiern und fühlen sich in ihrem volkswirtschaftsschädigenden Gammeltum zum Gary-Glitter-Sample auch noch "Gut dabei" - während "Arbeit nervt" als aufdringlichste Hymne der Dysfunktion wahllos Berufsständen die Triebhaftigkeit unterschiebt. Alles beim Alten also, Deichkind melken in der Fortsetzung ab, was ihr sorgsam chaotisch inszeniertes Remmidemmi hergibt. Könnte man meinen. Meinen sicher auch viele. Sie könnten kaum falscher liegen.

Denn der Aufguss findet bei Deichkind in der Sauna mit geklautem Gastgeber-Schnaps statt, nicht aber in der eigenen Kunst. Während der Mob sich nämlich gerade erst richtig auf die totale Abfahrt eingeschossen hat, häutet sich das Biest von Elektro-Super-Dance-Band schon wieder und offenbart ein weiteres Gesicht: Deichkind als Minderheiten-Anwalt, als Vorkämpfer und -trinker der von Erfolg und Beachtung Vergessenen, als besoffener Robin Hood der sozial Enteigneten. Das angenehm an Heinz Strunks "Computerfreak" gemahnende "Ich und mein Computer" mit seiner traurigen digitalen Verlorenheit, der zerstörerisch instrumentierte Trucker-Sex mit der "Travelpussy" oder die gesprächsvernichtend stammelnde Hamburger Altherrengeilheit in "Komm rüber" - überall merkt man das Mitgefühl, mit dem Deichkind sich mit den Losern aller Klassen solidarisieren.

Keine Frage, dass sich so eine Neujustierung des eigenen Schaffens auch im Klangbild spiegeln muss. Natürlich kann man mit einem Beat wie dem von "Metro" noch immer auf Großwildjagd gehen, doch wo sich der Inhalt nicht mehr ausschließlich auf den Rausch fokussiert, muss sich auch der Sound bewegen. Eine völlig ironiefreie Plastik-Pop-Tour zu den Vocoder-Wolken wie "Luftbahn" ist wohl dennoch das Letzte, was man von den Tabujongleuren Deichkind erwartet hätte, der phänomenal uncoole Titel verweist dann auch die tonlose Elektro-Verschwörungsparanoia von "23 Dohlen" mühelos auf den zweiten Platz in Sachen kaputt. "Hoverkraft" und "Urlaub vom Urlaub" verdeutlichen dagegen, wie sich auf "Arbeit nervt" neben dem dumpfen Gehämmer auch der Groove - eigentlich gerade erst mit dem HipHop ins Grab geschickt - als tragende Säule von Deichkinds Sound etabliert.

Bei allem Brimborium um Maskerade, Dinkels und Kapitalos und die ewige Feierwut lohnt es, bei "Arbeit nervt" hinter die Inszenierung zu schauen. Wer die vielen Widersprüche und Zwischentöne des akribisch und stilsicher herausgearbeiteten Wahn- und Blödsinns der Songs und dem Exzess-Image der vorgeblichen Rumhänger zulässt, wird einsehen, auf wie vielen Ebenen diese Band funktioniert. Auch, wenn man mit dem "Klötersound" dieses popkulturellen Wanderzirkus weiterhin auf Kriegsfuß stehen kann: Einen größeren Gefallen, als Deichkind als Soundtrack-Lieferanten für ein spätpubertäres Feierprekariat nieder zu reden, kann man der Posse kaum tun. Denn deren Dekadenz und Penetranz lebt vom Widerspruch, von der Lagerbildung. Für den verdienten "Urlaub vom Urlaub" kommt mit diesem gleichsam nervenzerrenden wie seltsam bunten Reisesoundtrack jedenfalls nur ein Ziel in Frage: Tourette de Mar.

(Dennis Drögemüller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Hört Ihr die Signale
  • Arbeit nervt
  • Travelpussy

Tracklist

  1. Hört Ihr die Signale
  2. Dicker Bauch
  3. Arbeit nervt
  4. Ich und mein Computer
  5. 23 Dohlen
  6. Luftbahn
  7. Metro
  8. Klötersound (Skit)
  9. Gut dabei
  10. Im Raucherzimmer (Skit)
  11. Travelpussy
  12. Hoverkraft
  13. Komm rüber
  14. Urlaub vom Urlaub
Gesamtspielzeit: 46:12 min

Im Forum kommentieren

Z4

2024-05-16 12:23:49

https://www.youtube.com/watch?v=8hPKH9PSMTk

Felix H

2023-03-11 14:53:26

Ab da hat man sie ernst genommen. Nachdem "Aufstand" eher so umstritten angenommen wurde und auch kein Erfolg war (vom bandinternen Drama mal abgesehen), erinnere ich mich dran, dass diese Platte die generelle Meinung gedreht hat. Liegt natürlich vor allem am grandiosen Titelsong, aber auch daran, dass hier kaum etwas abfällt. (Den Closer finde ich vielleicht etwas unspektakulär und "Luftbahn" geht auch nicht immer.) Bisschen frontloaded ist es, meine vier liebsten Tracks sind genau die am Anfang.
An sich schon fast ein Konzeptalbum über Arbeitslosigkeit, Bocklosigkeit, Geldlosigkeit und Würdelosigkeit. "Deichkind solidarisieren sich mit den Losern aller Klassen", hieß es in der Rezi und das stimmt auch.

Wenn du ma geil bist

2012-05-26 12:16:12

Truckdriver - gehn ab auf Fun mit Travelpusseeyyy !!!

Piepi

2009-01-29 21:19:52

Live eine absolut saugeile Erfahrung. Sollte sich jeder geben, wenn die in der Nähe sind.

Armin

2009-01-05 22:04:50

Kampfpreis: Bei Amazon kostet die derzeit nur 8,95 Euro.

Wer weiß, wie lange noch.

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(Nein, ich fang jetzt nicht an, regelmäßig das Forum zuzuspammen, finde die eben bei diversen CDs entdeckten 8,95 Euro aber durchaus ein gutes Angebot für alle, die das jeweilige Album noch wollen)


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