Deerhunter - Microcastle / Weird era cont.
Kranky / 4AD / Beggars / IndigoVÖ: 24.10.2008
Der Abend davor
Jedes Ende hat einen Anfang, oder nicht? Ob Traumschlösser, Luftschösser oder ein "Microcastle" wie hier bei Deerhunter aus Atlanta. Irgendwo muss doch ein Anfang sein. Nach einer Flasche trockenem Rotwein und dieser Platte auf Dauerration in den Tiefen der Nacht ist man sich aber nicht mehr sicher, ob so etwas wie Alpha und Omega, Realität und Phantasie, Nähe und Ferne, Schlaf und Wachsein überhaupt existieren. Alles wird aufgelöst. Nur einen kleinen Moment lang zu Beginn könnte man vermuten, dass Deerhunter einen auf die falsche Fährte führen wollen. "Cover me (slowly)" könnte glatt den Auftakt eines Aereogramme-Albums abgeben. Doch es folgt nicht der letzte Schrei der Schotten, sondern ein endloser Rausch, für den man schon vorher die nötigen Kater-Heilmittel bereitstellen sollte. Gerade weil am nächsten Tag CD2 und "Weird era cont." warten.
Das Quintett um Bradford Cox bahnt sich mit unzähligen Gitarren, Keyboards und Glockenspielen, Verzerrungen, Irrungen und Wirrungen durch den Nachfolger des großartigen "Cryptograms". Unter der Oberfläche ist alles durchlässig, alles fließt ineinander über. An der Oberfläche hingegen entfalten sich unglaubliche und unglaublich eingängige Hymnen, die einem nach mehreren Hördurchgängen endlos im Kopf herumschwirren werden, manchmal aber auch schnell wieder verschwinden. Ein Sinnbild der Flüchtigkeit der Postmoderne. Alle Identitäten mit samt ihren Widersprüchen werden in streckenweise perfektem, immer kristallklarem Songwriting versöhnt und vereint. Und von Zeit zu Zeit ertönt im Hintergrund ein Gesäusel, das die ohnehin schon vorhandene Leichtigkeit nur noch entschiedener verstärkt.
Einzelne Stücke aus der Gesamtkunst herauszugreifen, käme dem Griff nach leuchtenden Sternen gleich. Man wird geblendet und verzaubert und kann sich gar nicht falsch entscheiden. Ideale Einstiegsmöglichkeiten bieten sicherlich das pulsierende "Never stops", das 60s-Psychedelic-Pop à la The Zombies in die neuen Unübersichtlichkeiten der Gegenwart transformiert, und das "abschließende", ruhige "Twilight at Carbon Lake", das noch einen Schritt zurück geht und den Doo-Wop der späten fünfziger Jahre mit ins Jetztzeitalter nimmt. Die Erbauung des "Microcastle" ist damit erfolgreich erledigt. Kann "Weird era cont." das Level halten?
"Weird era cont." ist ein wenig fragiler und fraktaler als CD1, was sich besonders gegen Ende des Albums in den beiden Instrumentals "Slow swords" und "Weird era" zeigt. Ersteres bietet wieder die bekannten Ebenen: Unter der Oberfläche erzeugen Stimmen scheinbar breite Sphären, und an der Oberfläche gibt eine Glocke den Rhythmus vor. Zweiteres ist das bedrohlichste Stück des ganzen Doppelalbums: Ein einziger, furchteinflößender Klangteppich, der von Lou Reeds "Metal machine music" nicht allzu weit entfernt ist, allerdings nach 2:40 Minuten wieder verfliegt. Dazu passend werden auf "Weird era cont." die Punkwurzeln von Cox noch offensichtlicher, gerade im wilden, dynamischen "Dot gain". Letztlich liegen Garage, LoFi, Post-Rock oder eben Punk hier aber doch allein im Auge des Betrachters - und Deerhunter beschäftigen sich 83 Minuten lang damit, einem die wildesten Tropfen reinzuträufeln, die der Psych-Rock in diesem Jahr gebraut hat.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Never stops
- Twilight at Carbon Lake
- Dot gain
- Weird era
Tracklist
- CD 1
- Cover me (slowly)
- Agoraphobia
- Never stops
- Little kids
- Microcastle
- Calvary scars
- Green jacket
- Activa
- Nothing ever happened
- Saved by old times
- Neither of us, uncertainly
- Twilight at Carbon Lake
- CD 2
- Backspace century
- Operation
- Ghost outfit
- Dot gain
- Vox celeste
- Cicadas
- Vox humana
- VHS dream
- Focus group
- Slow swords
- Weird era
- Moon witch cartridge
- Calvary scars II / Aux. out
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Plattenbeau
2018-08-02 09:48:22
"Cryptograms" und "Microcastle", obwohl sehr solide, haben mich nie richtig gepackt. Das angehängte "Weird Era Cont." ist etwas durchwachsen, aber für mich fast spannender als das eigentliche Album. "VHS Dream" ist wohl einer meiner Lieblingssongs der Band. Als Album ist "Halcyon Digest" auch mein Highlight. Das krachig produzierte "Monomania" und das entspannte, postiv gestimmte, Pop-lastige "Fading Frontier" mag ich auch sehr gerne. Die EPs "Fluorescent Grey" und "Rainwater Cassette Exchange" sind auch absolut lohnenswert.
Gomes21
2018-08-01 23:39:14
Halycon Digest hab ich mir gerade mal in Ruhe angehört, geiles Album! wird fortgesetzt, danke für den Tip!
Felix H
2018-08-01 18:27:23
"Halcyon Digest" finde ich am allerbesten sowie die "Fluorescent Grey" EP. Aber im Prinzip alles seit "Cryptograms".
Empfehlung
2018-08-01 18:18:53
Halycon Digest
Fading Frontier
Aber eigentlich alles. Sehr gut ist das Liveset vom BKS (YouTube) oder Maifeldderby (ArteConcert).
Gomes21
2018-08-01 16:34:48
Wollte Ich unbedingt noch mal mehr von hören, kenne eigentlich nur microcastle komplett. Was würdet ihr empfehlen?
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