Stereolab - Chemical chords
4AD / Beggars / IndigoVÖ: 15.08.2008
Soft bulletins
Ungefähr dann, wenn er die erste feste Zahnspange kriegt und anfängt, "seinen Körper zu erforschen", bekommt der durchschnittliche Zehnjährige auch seinen ersten Chemiebaukasten geschenkt. Die Jahre bis zum Mofaführerschein stehen dann in der Regel im Zeichen von Unsicherheit, Strebertum, Außenseiterdasein und fröhlichem Selbsthass, aber gerade darum geht es ja beim Erwachsenwerden, wenn wir das alles richtig verstanden haben. Gefährlich wird es erst, wenn man niemals über die Chemiebaukasten-Phase hinauskommt, mit 16 immer noch Atome spaltet und sich zur Volljährigkeit keinen klapprigen Gebrauchtwagen, sondern einen Teilchenbeschleuniger wünscht. Oder halt: Gefährlich wird es erst, wenn man wie Stereolab ist. Auch im 18. Bandjahr schlagen diese Menschen weiterhin Luftlöcher in die Vernunft. Auch auf ihrer neunten Platte spielen sie eine Popmusik, die Hemdkragen, Karo-Pullunder, Kassengestell und Kniestrümpfe zu ihren Sandalen trägt.
Die dabei wichtigste Neuerung steht hinter einem Minuszeichen: Stereolab haben weniger denn je Lust darauf, den Nachlass des Krautrocks zu verwalten. Stattdessen schielen sie mehr noch als sonst Richtung Frankreich, hüten sich vor Experimenten mit ungewissem Ausgang und stellen lieber solange mit Zuckerwatte ausstaffierte Popsongs hintereinander, bis auch Ulla Schmidt entnervt abwinken würde. Gesund kann das nicht mehr sein, wie hier ein Lied nach dem anderen im immer gleichen 4/4-Takt auf sein Schicksal zuwackelt, während seltsam sterile Streicher über alles drüberwischen, was nicht von alleine blitzt. Stereolab aber sind Profis genug, um sich nicht ausschließlich auf ihr sensibles Gefühl für Kinderliedmelodien mit tapsiger Bläserschlagseite zu verlassen - und schmeißen ihrer neuen Stubenreinheit schon im knuffig-melodramatisch gesungenen "Neon beanbag" ein paar Schippen ihres guten, alten Nerd-Futurismus entgegen.
So wird "Chemical chords" zu einer Platte, die von der Routine der Leute lebt, die sie gemacht haben, ohne dabei besonders routiniert zu klingen. Wenn sich "Three women" mit maschineller E-Gitarre, diversen Keyboard-Spuren, Klingeling und Blaskapelle über seinem übersichtlichen Easy-Listening-Grundmotiv aufplustert, bis es an Muskelspielerei grenzt, atmen Stereolab Höhenluft wie seit Jahren nicht mehr. Soviel Schwung muss man mitnehmen: "One finger symphony" dreht sich samt ähnlicher Hilfsmittel im Kreis, würgt aber nach zwei Minuten schon wieder ab, bevor es noch jemand zum Anlass nimmt, die ausgehfertige Inkarnation von Goldfrapp per Fuchsschwanz um ihre hölzernen Tanzbeine zu erleichtern. Solche Gewalttätigkeiten liegen "Chemical chords" fern - es ist die erste Stereolab-Platte, die Babysitter ihren Kindern vorspielen können, ohne sich dabei heimlich schlecht fühlen zu müssen.
Echte Bissfestigkeit haben Stereolab, in den Neunzigern immerhin mal als Marxisten verschrien, heute nur noch selten; sie sind schon zufrieden, wenn comichafte Soundeffekte ihren songgewordenen Hüpfburgen wie "The ecstatic static" oder "Silver sands" den Sauerstoffhahn zudrehen. Die Einzelteile für sich genommen - Lounge-Jazz, Light-Chansons, Disneyfilm-Streicher, Fahrstuhlmusik - legen dabei übrigens ein Album nahe, das im Endeffekt nicht halb so katastrophal ist, wie es eigentlich sein müsste. Stereolab verbinden die losen Enden mit gefühlvollen Fingerspitzen und Bestnoten in Mengenlehre und Addition im Zehnerbereich. Sie wissen, was zumutbar ist, wann Schluss sein sollte und wie man immer weiter läuft, ohne sich zu verrennen. Sie haben das schließlich schon gemacht, als andere noch ihren ersten Chemiebaukasten ausgepackt haben.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Three women
- The ecstatic static
- Daisy click clack
Tracklist
- Neon beanbag
- Three women
- One finger symphony
- Chemical chords
- The ecstatic static
- Valley hi!
- Silver sands
- Pop molecule
- Self portrait with "electric brain"
- Nous vous demandons pardon
- Cellulose sunshine
- Fractal dream of a thing
- Daisy click clack
- Vortical phonothèque
- The nth degree
- Magne-music
- Spool of collusion
Referenzen
Spotify
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