Nine Inch Nails - The slip

The Null Corporation / Indigo
VÖ: 25.07.2008
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Weiter, immer weiter

Die übersprudelnde Hyperaktivität von Trent Reznor gönnt sich keine Pause. Zwar traute sich der Mann schon häufiger nicht aus dem Studio, aber jetzt hat er dank Web 2.0 und BitTorrent permanenten Anschluss an unsere Festplatten. Warum also sollten sich seine Hörer ausruhen dürfen? "The slip", die zweite Erst-Download-für-lau-dann-schicker-Tonträger-hinterher-Veröffentlichung von Nine Inch Nails binnen dreier Monate, ist schon das vierte Full-Length-Album der einst so produktionsscheuen Industrial-Rocker innerhalb eines guten Jahres. Das zählt zwar das Remixalbum "Y34RZ3R0R3M1X3D" ebenso mit wie die instrumentale Fragment-Sammlung "Ghosts I-IV", doch man darf sich begründeterweise von so viel Output ein wenig erschlagen fühlen.

Die Unkenrufe nach dem plötzlichen Downloadangebot der Vorabsingle "Discipline" hörten sich schon entsprechend an: Zu überstürzt sei dieses Popding herausgehauen worden, zu simpel sei seine Struktur, zu harmlos die Komposition insgesamt. Nun mag die Eingängigkeit dieses S/M-Bastards natürlich dazu beigetragen haben, dass RTLs Super-Nanny zu diesem Song die Stirn über ein paar missratene Präpubertierende kräuseln durfte. Und trotzdem setzte sich kaum ein Nine-Inch-Nails-Song der letzten Jahre hartnäckiger im Hörnerv fest als dieses famose "Discipline".

Auch gleich am Beginn von "The slip" lauert noch eine solche Ohrmuschel-Penetranz: Wenn das Surren und Zischen von "999,999" seinem Nachfolger Platz macht, hetzt ein knarzender Bass Reznor in die Atemlosigkeit und hat mit "1,000,000" noch so ein klaustrophobisches Pop-Monster im Schlepptau. Ja, Pop ist es, was auf "The slip" immer wieder passiert. Also etwas, das überambitionierte Reznor-Fans ihrem Bewunderungsobjekt so gerne verbieten würden. Natürlich dürfen die sich mit dem verzerrten Poltern von "Letting you" oder dem lebensmüden Januskopf "Head down" den Gehörgang durchpusten. Doch Reznor trickst sie trocken aus: "This is all a dream / And none of you are real."

Trotzdem hat Reznor, zumindest im Vergleich zu dem komplexen Konzeptunbehagen von "Year zero", auf "The slip" zehn merklich ruppigere Tracks im Angebot. Doch auch die kennen sich mit industrieller Mulmigkeit aus: Die sturen Beats von "Echoplex" hallen von den kalten Wänden einer Isolationszelle zurück, und ein paar absurde Lalalas schlagen dazu Widerhaken. "My voice just echoes off these walls / And I just slowly fade away." Trotzdem wehrt sich Reznor mit einem Kniff: "You will never ever get to me in here." Auch wenn das einsame Klavier von "Lights in the sky" mit Reznor ins Nichts fällt, wartet dort überraschendes Zutrauen: "Watching you drown / I'll follow you down / I am here right beside you."

Die psychotische Unvollkommenheit, die "Ghosts I-IV" speiste, pflanzt sich in der verstörenden Unruhe von "The four of us are dying" fort. Zum Schluss wächst auch noch das überragende "Demon seed" an den eigenen Komplexen über sich selbst hinaus und fährt im 6/4-Takt zur Hölle: "I have been trying to tolerate you / Well, I am reaching the point." "The slip" ist kein Ausrutscher, sondern trifft exakt ins anvisierte Ziel. Wem die schiere Produktivität Reznors keinen Respekt abnötigt, sitzt schlichtweg auf seinen Ohren. Denn eines ist klar: Stagnation und Fließbandarbeit haben nicht diese Tiefe, diese Reibung, diese zaudernde Eingängigkeit. Das Jahr ist noch lang, da geht noch was.

(Oliver Ding)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • 1,000,000
  • Discipline
  • Lights in the sky
  • Demon seed

Tracklist

  1. 999,999
  2. 1,000,000
  3. Letting you
  4. Discipline
  5. Echoplex
  6. Head down
  7. Lights in the sky
  8. Corona radiata
  9. The four of us are dying
  10. Demon seed
Gesamtspielzeit: 43:45 min

Im Forum kommentieren

MopedTobias (Marvin)

2024-04-04 17:06:29

Ich mag ja "Letting you" überhaupt nicht, aber ansonsten ein qualitativ sehr homogenes Album.

Affengitarre

2024-04-04 15:58:03

Die „Slip“ liegt bei mir schon alleine deshalb vorne, weil mir der rohere Sound einfach näher liegt. Wobei ich immer noch insgeheim hoffe, dass die „Hestitation Marks“ eines Tages Klick macht und mich vollends begeistert. :D Ich find die ja echt interessant, nur packt sie mich über weite Strecken nicht so wie andere Releases der Band.

The MACHINA of God

2024-04-04 15:47:05

auch wenn der Cut nach „Head Down“ krass ist.

Auf jeden Fall. Aber ich liebe den.

Die Songs sind aber schon ziemlich gut, ich mag es lieber als "Hesitation Marks".

Oh ja.

Felix H

2024-04-04 15:07:29

Hat mit "Letting You" einen meiner liebsten NIN-Brecher drauf. Rund ist das im Ganzen nicht, wie du schon sagst, als wollte Reznor drei verschiedene Platten machen und konnte sich nicht entscheiden. Die Songs sind aber schon ziemlich gut, ich mag es lieber als "Hesitation Marks".

Affengitarre

2024-04-04 14:43:13

Heute wieder gehört und viel Spaß gehabt, auch wenn der Cut nach „Head Down“ krass ist. Das Trio danach wirkt wie aus einem anderen Release geklaut und hier eingeschoben, auch wenn die für sich betrachtet wirklich toll sind.

Schon sehr zerfahren und insgesamt auch etwas mutlos, aber da sind immer noch genug tolle Songs dabei.

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