Sébastien Tellier - L'incroyable vérité
Record Makers / Labels Germany / VirginVÖ: 25.06.2001
Frösche im Weltraum
Nun hat also auch Frankreich seine Reality-Soap. "Loft Story" heißt dort die "Big-Brother"-Variante, die mit noch mehr Sex und etwas Verzögerung gegenüber dem paneuropäischen Umland für Gesprächsstoff in überfüllten Waschsalons und bestreikten Metrostationen sorgt. Dem Medieninteresse und den entrüsteten Reaktionen nach zu urteilen muß das Exhibitionismus- und Voyerismusvakuum in Prä-Loft-Story-Frankreich die Bruttoregistertonnen des Zentralmassivs erreicht haben. Das Feuilleton sinniert fröhlich über luftleere Wochenaufgaben, während sich die Zielgruppen über Isolationskonzepte, Containerkoller und Überwachungsängste langam aber sicher zum zentralen Höhepunkt des Experiments durchschlagen - der des isolierten menschlichen Wesens im Raum; also: Alles wie gehabt.
Folglich ist es durchaus nachvollziehbar, daß auch Record Makers, das Label der Air-Legenden Dunckel und Godin, ein Album auf die interstellare Reise in die undurchdringlichen Weiten der menschlichen Psyche schickt. Die Wahl des Untersuchungsgegenstandes fiel auf den 25-jährigen Sébastien Tellier, der bei der Mission "Die unglaubliche Wahrheit" nicht nur den Chefpiloten stellt, sondern auch die Vollbesatzung, das Bodenpersonal sowie Start- und Zielkoordinaten in Personalunion. Kurz: Hier funktioniert jeder Ton so, wie es Tellier wünscht, jede Wendung und Endung platzt im nach streng geheimen Formeln kalkulierten Moment. Oder aber: selbstgespielt, selbstgemacht, selbstgedacht; selbstverständlich.
Auch die Startkonditionen zum Unternehmen Selbstportrait sind ausführlichst dargelegt: Ein Quicktime-Film auf der CD liefert erste Hinweise und Erklärungen zur Platte und wartet sogar mit einem Serviervorschlag auf - nichts da mit Kosmonautenfutter, das Tête-à-Tête mit Gastgeber Tellier sollte man nur alleine angehen, allenfalls in der Gesellschaft von spärlichem Kerzenlicht. Im entsprechend kargen Rahmen startet "L'incroyable vérité" dann auch, allerdings nicht die folkige Variante der Kargheit, die eventuell zu erwarten wäre, sondern eine düster-sonderbare, die kontinuerlich ihre Triebkraft steigert, um kurz danach wirklich abzuheben. Wir schweben! Die Reisehöhe wird konstant gehalten, in dem tatsächlich weit und breit kein Schlagzeug zu hören ist, das die Expedition wieder auf Nullniveau zurückreißen könnte. Die sparsame, fragile Instrumentierung ist geblieben, und spätestens im dritten Track wird klar, wohin die Reise geht: Telliers Stimme setzt ein, verzerrt und verziept, von einer saloppen Gitarre unterstützt, und zieht die Aufmerksamkeit in ihre Richtung, seine Richtung.
Doch das Schweben trügt: Auch Telliers Persönlichkeit hat ihre lauten Seiten. Da wird gekreischt, gezerrt, gerauscht, geeiert und gerasselt. Ganz normale Turbulenzen eben. Und wer nach einem Freiflug noch nicht genug hat oder dem Kandidaten noch nicht nah genug an die Poren gerückt ist, fängt am besten nochmals von vorne an, macht sich erneut auf ins vor Intimität und Individualität strotzende Abenteuer. Die Begründung für die Faszination am Wesen wildfremder Menschen muß indes irgendwo hinter einer Songkurve versteckt sein. Bei der Suche nach dem wahren Sebastien Tellier darf und soll man sich Zeit lassen. So schnell wird sich nämlich niemand trauen, "L'incroyable vérité" aus dem heimischen CD-Player wegzunominieren.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Universe
- Kissed by you
- Black doleur
Tracklist
- Oh malheur chez O'Malley
- Kazoo III
- Universe
- L'enfance d'un chien
- Une vie de papa
- Fin chien
- Grec
- Kissed by you
- Fantino
- Trilogie femme
- Black douleur
Referenzen
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