Gustav - Verlass die Stadt

Chicks On Speed / Indigo
VÖ: 16.05.2008
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Komischer Vogel

Selbst das Dagegensein ist heute nicht mehr das, was es einmal war. Früher eckte man noch an damit, kämpfte um jeden Feind, den man sich machen konnte und half sicherlich auch keinen alten Omas über die Straße. Vor vier Jahren war Eva Jantschitsch aus Wien dann aber so gut im Dagegensein, dass plötzlich auch ihre Gegner dafür waren. Mit dem ersten Gustav-Album "Rettet die Wale" schrieb Jantschitsch ihre eigene kleine Erfolgsgeschichte, bekam einen wichtigen österreichischen Musikpreis, den sonst eigentlich immer DJ Ötzi gewinnt, und es wurde sowieso alles sehr unheimlich. Meistens ist es dann ja am klügsten, einfach mal wegzugehen. Wer nicht da ist, kann sich schließlich auch nicht vereinnahmen lassen. Und so ging Gustav eben dahin.

Jantschitsch hat in den letzten drei Jahren vor allem on demand für Film, Theater und Liederabende gearbeitet, um sich nebenher ganz ohne Verpflichtungen an die Idee einer zweiten Gustav-Platte gewöhnen zu können. Die ist jetzt da, endlich, heißt "Verlass die Stadt", und zu sagen, dass diese Platte alle Register zieht, wäre ähnlich untertrieben wie die Behauptung, Robert Downey Jr. schlage hin und wieder ein wenig über die Stränge. Marsch- und Blas- und Volksmusik, Klaviere, Gitarren, Streicher und Schreibmaschinen - Gustav kennt es, Gustav kann es, und bleibt doch in erster Linie Laptop-Artistin. Auf ihrer Festplatte finden die Stilrichtungen und -blüten zusammen. "No Zäune, no borders", sie sagt es ja selbst.

"Verlass die Stadt" passiert dabei näher am Song als sein abstrakterer Vorgänger. Es ist auch nicht ganz so verrückt - aber immer noch verrückt genug, um nach drei Minuten des Aufgesangs "Abgesang" in das Tschilpen, Zwitschern und Tscha-rip der Vögel einzustimmen, die einem außerhalb von Wien so um die Ohren fliegen. Leonard Cohen hat ja ähnliches gemacht, wenn ihm zur Welt nichts mehr einfiel; bei ihm wäre die Musik allerdings nie aus einem Alleinunterhalter-Keyboard gekommen. Auf "Verlass die Stadt" hat alles andere gar keinen Sinn: Gustav macht sich für "Neulich im Kanal" schließlich auch bekiffte Gedanken zu "Wetten, dass...?!", klaut den Anfang von "Total quality" (sicher versehentlich) bei Jens Lekman und schreibt am Ende ein Geburtstagslied gegen den ganzen "Heppy-Peppy"-Scheiß, der sonst so an Ehrentagen gesungen wird. "Lacht nicht, Ihr alle werdet sterben." Sie ist nicht mehr so verrückt, wie gesagt.

Dass "Happy birthday" nach kurzer Hidden-Track-Pause als Ambient-Remix seiner selbst wiedergeboren wird, ist dann durchaus eine finale Geste der Trotzigkeit: Gustav zählt noch mal fünf Minuten lang Menschen auf, für die das Leben kein Wunschkonzert ist und unterstreicht ihr Selbstverständnis als Protestsängerin, die auch mit den Waffen des Feindes umgehen kann. "Alles renkt sich wieder ein" taumelt um Nationalhymnen- und Heimatlied-Klischees, ein paar Bibelverse sind wohl auch noch mit drin. Abseits aller Kontexte ist es aber zuerst ein wunderschönes Lied - und damit etwas zu allein auf weiter Flur und "Verlass die Stadt", das sich entschlossen auf andere Qualitäten stützt. Das Album ist sehr clever, die Kunstfertigkeit der komplizierten Soundcollage "iFall" überragend und "Soldatin oder Veteran" wahrscheinlich der erste ausgehfertige Electro-Rock-Song über neoliberale Freibeutermethoden. Musik ist aber eigentlich viel einfacher: Man braucht nur zwei Stimmen und ihre gegenseitigen Beschwörungen aus dem Titelstück dieser Platte. Und schon ist Gustav wieder weg.

(Daniel Gerhardt)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Abgesang
  • Alles renkt sich wieder ein
  • At the river's edge

Tracklist

  1. Abgesang
  2. Neulich im Kanal
  3. Total quality
  4. iFall
  5. Alles renkt sich wieder ein
  6. At the river's edge
  7. Verlass die Stadt
  8. Soldatin oder Veteran
  9. Happy birthday
Gesamtspielzeit: 50:52 min

Im Forum kommentieren

Z4

2024-02-19 22:14:39

Scheisse ist allein der Opener gut. Sehr schade, dass sie aufgehört hat.

Tama

2008-09-02 14:18:54

Eieiei, das ist aber ganz schön makaber... aber irgendwie doch ganz amüsant... ;)

fakeboy

2008-09-02 14:04:34

zum glück ist gustav nicht bei 'nem major, sonst müsste sie jetzt den album-titel ändern...
(so wie juli nach dem tsunami in asien...)

meyhem

2008-09-02 12:55:55

hehe irgendwie sehr komisch
wohl jeder denkt da wohl an den hurricane

fredman

2008-09-02 12:45:15

Ja, ich auch.

Zu fassen ist sowas nicht wirklich, oder???

Synchronizität hat C.G. Jung das wohl mal genannt, oder, wie die Chinesen sagen: Welche Dinge neigen dazu, in der Zeit zusammenzutreffen.

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