Forward, Russia! - Life processes

Cooking Vinyl / Indigo
VÖ: 11.04.2008
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Am offenen Herzen

Wenn Gott den Menschen wirklich liebt, warum hat er dann so ein unansehnliches Gekröse in das Innere seines Körpers reingebaut, ohne ihn vorher zu fragen? Während die Wenigsten regelmäßig daran denken, was unter ihrer Haut so los ist, rufen es Forward, Russia! in Erinnerung. Auf "Give me a wall", dem Debüt des Quartetts aus Leeds, prangte noch klobige Agitprop-Grafik. Das Artwork zu "Life processes" hingegen bietet anatomische Einblicke in Gehirn, Brustkorb, Zahnfleisch und Rückenmark. Als wäre hier nicht schon genug Leben in der Bude.

"Give me a wall" kam mit seinem verschlagenen Irrsinn genau richtig angesichts der Langeweile, die den Post-Punk-Hype allmählich übermannte. Mit übergeschnapptem Japsen von Sänger Tom Woodhead, das einem stellenweise die Haare zu Berge stehen ließ und einer halsbrecherischen Gratwanderung zwischen Interpretationsverweigerung und Emphase, mit nummerierter Tracklist und extrem wortlastigen Songs, deren Texte aber selten leserunfreundlicher in einer Beilage abgedruckt wurden. Ein hysterisches Meisterwerk, auch wenn man hinterher immer noch nicht recht wusste, was die jetzt eigentlich von einem wollen.

"Life processes" erscheint auf Anhieb ein wenig schlüssiger und hat zudem echte Songtitel zu bieten, unter denen man sich etwas vorstellen kann. Doch auch diese ersetzen letztendlich nur eine Hermetik durch die andere, sodass man sich tiefer in die Abgründe dieses Albums hinabwagen muss, um es ansatzweise zu verstehen. "In the dirt and the earth / We will hide all our secrets 'til death." Au weia. Aber auch: "We are saved! We strike matches in the dark!" Ein Glück. Und trotzdem: Diese "Life processes" sind höchst unwägbar und müssen inhaltlich wie musikalisch mit den Zähnen erknirscht werden. Ein Schock für alle, die bisher dachten, menschliches Leben beginnt, wenn das Kind aus dem Haus und der Hund tot ist. Aber die dürften spätestens ab dem dritten Stück ohnehin nicht mehr dabei sein.

Sie verpassen ein abenteuerliches, oft sprachlos machendes Stück Musik. Das Ausrufezeichen zu Beginn des Bandnamens ist verschwunden, das im Sound geblieben. Die Löcher in die Tanzfläche stanzenden Hits des Debüts sucht man hier eher vergeblich, fürchtet mitunter sogar, diesem hybriden Ungetüm nicht recht folgen zu können und am Ende vielleicht das Wichtigste verpasst zu haben. Die mit spitzen Fingern gespielten Riffs in den minimaleren Passagen etwa, die von übersteuerten Marschtrommeln konterkarierten Geisterchöre von "A prospector can dream" oder den in dieser ständig mutierenden Umgebung fast verloren wirkenden Piano-Abgesang "Fosbury in discontent".

Dazwischen stemmen Forward, Russia! wie zum Hohn atmosphärische Songanfänge mutwillig mit Hardcore-Eruptionen auf, schreiten auf übergroßen Shoegazer-Einlegesohlen daher und drücken im abschließenden "Spanish triangles" sogar ihre Vorstellung von einem Progrock-Monster durch. Und irgendwie hat man danach das unbestimmte Gefühl, dass vielleicht doch irgendwann wieder alles gut wird im Leben. Wie nach einer lebensnotwendigen Operation am offenen Herzen, bei der jede Menge verkrusteter Unrat weggespült werden muss, damit die Pumpe wieder arbeitet. Das dauert lange, geht nicht ohne Komplikationen ab, und eigentlich will man ja gar nicht so richtig. Vielleicht sind Forward, Russia! so was wie der Dr. House des Post-Irgendwas: Sie tun einem mit voller Absicht weh, wissen ständig alles besser und haben am Ende auch noch recht. Ein Ausrufezeichen!

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • We are grey matter
  • A prospector can dream
  • Some buildings
  • Gravity & heat

Tracklist

  1. Welcome to the moment (The rest of your life)
  2. We are grey matter
  3. A prospector can dream
  4. Spring is a condition
  5. Don't reinvent what you don't understand
  6. Some buildings
  7. Breaking standing
  8. Gravity & heat
  9. Fosbury in discontent
  10. A shadow is a shadow is a shadow
  11. Spanish triangles
Gesamtspielzeit: 52:36 min

Im Forum kommentieren

Ituri

2014-04-19 22:40:44

"Fosbury in Discontäääänt"!!!

The MACHINA of God

2014-04-19 21:46:50

"Spanish triangles"!!!

...

2010-06-20 19:46:11

mal wieder rausgeholt. wahnsinn, dieses album!

The MACHINA of God

2008-08-15 00:04:43

Och nööö. Die sollen mal weitermachen.

Mendigo

2008-08-14 23:47:38

um welten besser als Mars Volta ist es, um welten besser als das debut ist es auch, aber so toll ist es dann auch wieder nicht.
irgendwie ist der aufbau der lieder zu einseitig, zu gewollt episch. das kommt dann am besten bei Spanish Triangles heraus - sozusagen die überhöhung des musikalischen grundgedanken der hinter der platte steht. aber nicht falsch verstehen, ich hörs mir auch gerne an ;)

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