
Britney Spears - Blackout
Jive / Sony BMGVÖ: 26.10.2007
Erste Hilfe
Niemand macht einen Hehl daraus, dass es auch um den Spaß an der Sache geht, wenn auf Plattentests.de ein Britney-Spears-Album rezensiert wird. Für den geneigten Schreiber ist das wie einer dieser Ärzte-Kongresse in Las Vegas, auf denen in erster Linie gesoffen, gefuttert und gezockt wird: schon irgendwie Arbeit, aber mit einem Extralöffel Zucker verabreicht. Nun gibt es natürlich ein Problem: Britneys echtes Leben ist längst absurder und tragischer als jede Hetzschrift, die man sich ausdenken möchte. Es gibt nichts mehr zu schreiben, weil alles schon passiert ist. Sicher, hier könnte jetzt eine groteske, überzogene, gemeine Drogen-, Sex- und Sorgerechtsgeschichte stehen. Aber niemand würde fragen: "Ist das wirklich passiert?" Sondern höchstens: "Wann ist das denn passiert?"
Was also ist passiert seit der drei Jahre alten Sammlung "Greatest hits: My prerogative"? Britney hatte endlich Sex, mindestens zweimal, sie muss sich nur noch sechsmal scheiden lassen, um zu Liz Taylor aufzuschließen, und die notgeilen Tabloids, Videotexte und Celebrity-Blogs dieser Welt hat sie auch weitgehend allein geschmissen. Oh ja, außerdem wird sie Anfang Dezember 26, und das ist ja das eigentlich Perverse an der ganzen Scheiße, in der sie steckt. Diese Frau ist soweit durch mit allem, dass wahrscheinlich außer Hitler keine der Wachsfiguren bei Madame Tussaud's mehr neben ihrem Nachbau stehen möchte - und es ist dazu gekommen, bevor sie überhaupt alt genug war, um in Deutschland eine eigene Krankenversicherung abschließen zu müssen.
Für "Blackout" ist das insofern gut, dass es eigentlich gar nicht mehr schiefer gehen kann, als eh schon alles geht - auch wenn man kurz dazu neigt, die Platte nach zwei Sekunden für beendet zu erklären, weil sie mit den pseudolasziven Worten "Britney, bitch!" losgeht. Natürlich ist die Sache wie immer gelaufen: Nate Hills, der in der Produzenten-Pyramide der amerikanischen Unterhaltungsmusik noch über Timbaland rangiert, und die Schweden Bloodshy & Avant (of "Toxic"-Fame) haben "Blackout" in ihren Labortrakten für gehobene Popgrütze entwickelt, und der treudoof um Gleichgültigkeit bemühte Abschlusstrack "Why should I be sad" ist Pharrell Williams beim Sit-Up-Training aus einer Six-Pack-Ritze gerutscht. Dennoch erstaunlich: Kanye West hätte sich mindestens recht herzlich bedanken müssen, hätte man ihm auch nur einen der Beats von "Blackout" für sein "Graduation"-Album angeboten.
Weil ja ohnehin egal ist, welche Musik auf Britneys fünfter Platte drauf ist, durften sich die Leute dahinter diesmal sehr freimütig austoben. Wie schon Justin Timberlakes weitgehend deckungsgleiches "Futuresex/Lovesounds" ist "Blackout" vollkommen charmefrei. Die Tracks versuchen erst gar nicht, irgendwelche menschenähnlichen Gefühle vorzuheucheln, und glänzen stattdessen mit mechanischer Präzision und zickig betriebsamen Beats, zu denen sich die Stripper der linken Erdhalbkugel ab sofort fröhlich die Tangas vom Sack reißen lassen dürfen. Niemand würde Britney heute noch abnehmen, dass sie fähig ist, irgendetwas inklusive sich selbst zu lieben - also wurde die bisher unverzichtbare Balladenseife gestrichen und "Blackout" automatisch zu ihrem bisher besten Album. Nicht zuletzt, weil der frei geräumte Platz sehr konsequent für noch mehr Tanz- und Trink- oder Toilettensexmusik verwendet wurde.
Die Perfektion, mit der die ausführenden Hände dabei eins zum anderen führen, ist bisweilen schon ein Stückchen zu beängstigend. Man muss aber auch sagen dürfen, dass ein mehrteiliger, dramaturgisch unschlagbar kluger Track wie "Heaven on Earth" mehr Freude am Experiment und Durchdrehen zu haben scheint als 80% der Musik, die momentan Indierock genannt wird. Wenn "Blackout" also überhaupt ein Problem hat, dann Britney selbst, die hier eigentlich nur im Weg steht. Anders als Timberlake hat sie weder Stimme noch Entertainerqualitäten, um die passende Show zur Machtdemonstration ihrer Produzenten abzuziehen. Stattdessen gibt sie die sagenhaft hilflose, unerotische Edelnutte der Musikindustrie, von der auch noch langsam der Putz abbröckelt. Sie ist hier also einfach sie selbst - und wer hätte denn bitte für möglich gehalten, das jemals über eine Britney-Spears-Platte sagen zu können?
Highlights & Tracklist
Highlights
- Piece of me
- Radar
- Heaven on Earth
- Hot as ice
Tracklist
- Gimme more
- Piece of me
- Radar
- Break the ice
- Heaven on Earth
- Get naked (I got a plan)
- Freakshow
- Toy soldier
- Hot as ice
- Ooh ooh baby
- Perfect lover
- Why should I be sad
Im Forum kommentieren
Rhyton
2025-01-18 19:03:28
Platz 80
https://www.rollingstone.com/music/music-lists/best-albums-21st-century-1235177256/bon-iver-for-emma-forever-ago-2-1235187777/
Matjes_taet
2024-08-04 12:28:33
"Nachträgliche 9/10 von Pitchfork"
Würde ich mitgehen. Kenne allerdings nur die ersten beiden Songs.
Sloppy-Ray Hasselhoff
2024-08-04 11:04:33
Dürften ein Blackout gehabt haben.
Gilgamesch
2024-08-04 10:39:54
Nachträgliche 9/10 von Pitchfork
Z4
2024-01-23 13:09:08
Jeder Song wie eine Nummer in einem Variete-Theater, ein Konzept, dass mit Circus dann auf die Spitze getrieben wurde. Natürlich ist das die maximal zynische Art Musik zu machen, Britney wird im wahrsten Sinne einmal durch die Manege gezogen, dennoch hat das alles eine extrem hohe Qualität, Britney wurde als Produkt perfektioniert. Wie wichtig es ist, dass dies einmal so gemacht wurde, zeigt aber der Einfluss dieses Albums, das stellenweise wie SOPHIE (Debutalbum "product") klingt, und für das Ende der Zeit des "künstlichen" Künstlers stehen kann. Nach Britney schlugen alle Künstlerinnen einen extremen Kurs Richtung Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit und Authentizität ein, gleichzeitig führten sie aber auch den Sound dieses Albums weiter. Die logische Konsequenz dieses Albums konnte nur Lady Gaga sein, die ein Jahr später ihren Durchbruch hatte. Ob der ohne Britney Spears möglich gewesen wäre? Unwahrscheinlich.
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