Einstürzende Neubauten - Alles wieder offen

Potomak / Indigo
VÖ: 19.10.2007
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Freigang

Auf der Insel Berlin, entkoppelt vom schnellen Zugriff der Macht, befanden sich die Einstürzenden Neubauten in den achtziger Jahren in einer Enklave zwischen Kühl- und Kühnheit. In jenem offenen Vollzug der Bonner Republik dachten und musizierten sie ihr Bild von Zerrissenheit. Und schützten es auch gegenüber dem hysterischen Stolz, den das "neue Berlin" schließlich aus der Selbstzufriedenheit einer politischen und kulturellen Hauptstadt herausposaunen sollte. So wurden sie in all dem Radau schließlich selbst zur Enklave, beziehungsweise zu (Ana-)Chronisten einer Stadt und ihrer wechselvollen Entwicklung. Sie verwahrten das "alte Berlin" als einen Akt letzter Zeugenschaft. Zugegeben: Das ist ein etwas fragwürdiger Rap über den Neubauten-Output. Aber allemal eine weitaus schönere Erklärung für die Milde seit "Silence is sexy", als Weltbürger Blixa Bargeld immer wieder aufs Geburtsdatum zu lugen.

Zumal bei den Neubauten "Alles wieder offen" ist - auch der Zugang zur eigenen Vergangenheit. So scheint ihnen das sowohl musikalisch wie textlich skandierende "Weilweilweil" wie aus einem Reflex heraus immer wieder zu passieren. Ebenso ist "Let's do it Dada" im Neubauten-Kosmos schon längst der passende Trinkspruch auf die Feststellung: "Schokolade schmeckt lecker!" Ein Aphorismus, ein tautologischer Euphemismus, eine Binsenwahrheit. Was hier dennoch die Begeisterung hochfahren lässt, sind die Selbstverständlichkeit sowie die Wärme und Dichte im Sound, die den Songs nicht länger ein metallisches Korsett verpassen, sondern in der Tat wie von selbst in einen Maßanzug fallen.

Auch das Leise, Zarte und Gedämpfte wird auf "Alles wieder offen" vielleicht ein erstes Mal nicht als Haltung exekutiert, sondern ist zu einer neuen Gewissheit zumindest entschlossen. Wie sich "Die Wellen", "Von wegen" und "Ich warte" nicht so wirklich zwischen Trip und Groove entscheiden können, um sich dann mit gezupften und gestrichenen Saiten zu einem Roman umzublättern, der Soundtracks eskaliert und Postrock trivialisiert, ist schon ein neues, differenziertes Theater der eigenen Autorität. Ein Spiel auf der Grenze, sehr konzentriert, und in der Tat ebenso offen, wie in sich selbst verständlich.

Auch Bargelds lyrisches Peitschenknallen folgt mehr und mehr diesem Takt. Wenn er "Die Wellen" mit "Bleibst du jetzt hier, oder was?" anfährt, so wirkt das weder herrisch, noch verzweifelt. Es hat vielmehr etwas von einer humorvollen Lieblichkeit und umstrahlt so den Umgang mit Worten und Sprache. Es ist ein metaphorisches Wohlwollen, das zwar nach wie vor ebenso präzise, wie im Innern zerbrochen ist, aber auch von einer Leichtigkeit des Flüchtigen und des Scheiterns beinahe angefixt zu sein scheint. Selbst wenn "Unvollständigkeit" seinen Titel in die Unendlichkeit skandiert, ist spätestens mit dem auch sonst hervorragenden "Susej" schon wieder alles gut.

Dass mit "Ich hatte ein Wort" wieder sehr unverkrampft ein potentieller Hit auf der Platte ist, steht so schon lange nicht mehr für die Zähmung von Widerspenstigkeiten. Zudem ist dieses Wort weder ein letztes zum Abschied, noch eines zum Neubeginn. Es ist ein Wort des Dazwischen oder des Mittendrin, das selbst nicht zu finden sein wird. Und gerade deshalb anspornt und Sinn und Struktur produziert: "Ich bin die fernsten Winkel abgereist / Auf der Suche nach der Bedeutung, dem Beweis / Nach einem Wort, das ich nun wieder weiß / Das ich in mir trug / Ich geb' es nicht mehr preis." Beruhigend, zu wissen, dass man nichts mehr beweisen muss. Und verharren kann, um die Welt zu umarmen.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Die Wellen
  • Ich hatte ein Wort
  • Susej

Tracklist

  1. Die Wellen
  2. Nagorny Karabach
  3. Weilweilweil
  4. Ich hatte ein Wort
  5. Von wegen
  6. Let's do it Dada
  7. Alles wieder offen
  8. Unvollständigkeit
  9. Susej
  10. Ich warte
Gesamtspielzeit: 48:04 min

Im Forum kommentieren

Christopher

2022-11-26 08:07:32

Tolles Album. Ich liebe auch "Nagorny Karabach", "Ich hatte ein Wort" und "Von wegen".

VelvetCell

2022-11-20 18:42:51

Ich kann meinem Vorredner nur zustimmen!

VelvetCell

2021-07-25 14:29:20

Im Moment wieder auf Rotation. Sehr tolles Album, dass mit Weilweilweil und Susej zwei ihrer besten Songs beinhaltet. Aber auch so Schleicher wie "Unvollständigkeit" sind klasse.

Und ja: Hier machen die Lyrics einen Teil des Zaubers aus. Eigentlich höre ich Musik zuerst über Sound und Song, dann über Text. Aber Blixa hört man sofort zu.

LG

2009-10-16 13:03:34

Wegen der Portishead-Diskussion kam ich wieder mal zu den Neubauten.

Wunderschöner Song:
http://www.youtube.com/watch?v=hd-6WweqD0Y

Patte

2009-01-27 20:43:28

SPIEGEL ONLINE: Statt mit Alkohol und Drogen möchten Sie Backstage, wie Sie es im Buch beschreiben, inzwischen lieber mit Bio-Obst und Sojamilch versorgt werden?

Bargeld: Mit Sojamilch mit Vanillegeschmack kann ich zwar nichts anfangen, das ist grauenvoll. Aber ich lebe ja auch in China, da ist das was ganz anderes, da haben wir sogar eine Sojamilch-Maschine. Morgens essen wir immer frische Sojamilch mit Seealgen und getrockneten kleinen Shrimps. Das ist das Frühstück für Champions!


http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,602439,00.html

Mjam, Sojamilch!

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