
St. Vincent - Marry me
Beggars Banquet / IndigoVÖ: 14.09.2007
Im Zirkuszelt
Geht man nach dem Cover ihres Debütalbums, dann ist die Musik St. Vincents in etwa so aufregend wie eine Amtsstube in Bad Hersfeld. Mausgrauer Hintergrund, davor St. Vincent alias Annie Clark in einem steingrauen, kittelartigen Kleid. Freilich erinnert die junge Dame, wie sie mit rotem Lippenstift und wuscheligen Haaren bambigleich aus dem Foto herausäugt, weniger an die Sachbearbeiterin L-M des örtlichen Einwohnermeldeamts, als eher an eine verwunschene Prinzessin, die aus ihrer misslichen Lage nur per Heirat befreit werden kann. Womit der Titel des Albums, der nicht umsonst wie ein Krönlein über ihrem Haupt schwebt, dann auch gleich erklärt wäre.
Die Musik auf "Marry me" ist freilich keineswegs so schmucklos-grau, wie die Verpackung vermuten lässt. Frau Clark probiert vielmehr alle Farben der Palette durch. Und in dem Seestück, das sie da auf die Leinwand zaubert, sind ihre Songs nur eine Nussschale im Spiel turmhoher Wellen. Rauf und runter, hin und her geht die wilde Fahrt. Wo gerade noch ein blauer Himmel grenzenloses Glück versprach, braut sich jetzt schon ein Gewitter zusammen. Aber nach einem kurzen Regenguss mit Blitz und Donner blinzelt schon wieder die Sonne durch die Wolken. Ein bunter Spielmannszug aus Pop, Jazz und Klassik zieht da mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, Piano, Glockenspiel, Harfe, Bläsern, Streichern, Schlittenglöckchen, Handclaps, ein paar elektronischen Elementen und Alice im Wunderland an der Spitze durch die heimischen vier Wände. In "Jesus saves, I spend" singt sogar scheinbar ein bekifftes Erdhörnchen mit. Aber, und das ist ja die eigentliche Kunst, hier ertönt niemals alles gleichzeitig in chaotischer Kakophonie. Stattdessen hat jedes Instrument seinen genau angewiesenen Platz und gibt nur dann einen Ton von sich, wenn es in der ausgeklügelten Songdramaturgie an der Reihe ist.
Einen schlechten Song bringt St. Vincent dabei beim besten Willen nicht zustande. Allenfalls "All my stars aligned" klingt zu Beginn etwas schmalzig. Ansonsten ist hier ein Stück schöner als das andere. "Now, now" etwa beginnt harmonisch mit Clarks Sopranstimme und Hintergrundchor, musikalisch aber bricht ihre Drohung "You don't mean that, say you're sorry / You don't mean that, I'll make you sorry" erst gegen Ende aus, wenn ihre Gitarre dem uneinsichtigen Lover das Gesicht zerkratzt. In "Your lips are red" pocht eine Bassdrum mit erhöhtem Puls, ein Piano schießt quer hinein, Streicher, die wie rückwärts aufgenommen klingen, mischen sich dazu. Es geht hoch her wie bei einem heftig knutschenden Paar auf dem Rücksitz eines Taxis. Bis mit einem Schlag alles verstummt und die Entspannung wie ein Sonnenstrahl der Liebe das leidenschaftliche Durcheinander durchbricht. Der ruhigste und entspannteste Song ist wohl "Landmines", in dem Blues-Einflüsse, militärische Snarewirbel, eine Harfe und zarte Elektronik glücklich zueinander finden.
Eine Amtsstube in Bad Hersfeld? Wohl eher ein Drahtseilakt im Zirkuszelt. Offensichtlich hat sich bezahlt gemacht, dass Annie Clark bereits mit Sufjan Stevens und The Polyphonic Spree auf der Bühne gestanden hat. Die Dame ist Kraftmensch, Magier, Akrobat und Löwenbändiger in einer Person und führt ihre Kabinettstückchen mit einer Staunen erregenden Kunstfertigkeit und Grazie vor. Ein Kaninchen nach dem anderen zaubert sie aus dem Hut, bis einen mit dem letzten Ton des Albums die schnöde Wirklichkeit wieder einholt. Im öden Korridor eines grauen Verwaltungszweckbaus irgendwo in Deutschland.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Now, now
- Your lips are red
- Landmines
Tracklist
- Now, now
- Jesus saves, I spend
- Your lips are red
- Marry me
- Paris is burning
- All my stars aligned
- The apocalypse song
- We put a pearl in the ground
- Landmines
- Human racing
- What me worry
Im Forum kommentieren
koe
2009-01-07 11:07:15
Marry me John, Marry me John....... .
Leatherface
2009-01-07 11:04:28
Rein zufällig hab ich das Album gestern auch mal wieder gehört. Sehr gut, ja.
hellworm
2009-01-07 10:58:55
Hab das Album für ein paar Euro bei Amazon erworben.
Was soll ich sagen, ich bin total begeistert! :-) Tolle Melodien, nette Ideen in jedem Song, heiter und melancholisch.
Erinnert mich ein wenig an Fiona Apple.
Würd die süsse Annie gern mal live sehen :-)
Wertung: 9/10
logan
2007-12-20 00:06:03
St. Vincent ist bisher völlig an meiner Wahrnehmung vorbeigegangen, und den Myspace-Sachen nach zu urteilen sogar völlig zu unrecht. Aber leider ist "Marry Me" dieses Jahr absolut nicht mehr drin. Ich bin völlig blank und muss mich eh schon für den Rest des Jahres durchschnorren... Wird aber beizeiten nachgeholt.
Pablo Diablo
2007-12-08 13:38:48
Album des Jahres. Live sogar noch besser als auf Platte.
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