Nine Inch Nails - Year zero
Nothing / Interscope / UniversalVÖ: 13.04.2007
United States Of Paranoia
Nullen und Einsen. Flackern auf der Netzhaut. Früher verbrachte Trent Reznor Jahre in diesem unwirklichen Mikrokosmos. Wohl nur so konnten "The downward spiral" und "The fragile" zu solch intensiven Klangwelten werden. Doch jetzt ist alles anders: Reznor hat die Drogen hinter sich und traut vor allem seiner eigenen Kraft. Und wenn er wieder einmal ein größeres Projekt plant, kommt zwangsläufig mehr dabei heraus als ein schnödes SciFi-Konzeptalbum. Viel mehr. "Year zero" ist eine USB-Schnitzeljagd. Ein WWW-Labyrinth. Eine Suche nach Spektrometerbildern, vergrabenen Morsecodes und versteckten Telefonbotschaften. Ein Haufen kruder Videoschnipsel und vielleicht gar ein ganzer Film. Ein Verwirrspiel um eine verstörende Zukunftsvision. Heiteres Weltuntergangsraten. Oder auch: Marketing 2.0.
Bevor sich jemand beim unvorbereiteten Hinterherhecheln der Trent-Sportart "Year zero" das Gehirn verknotet, erst einmal ein kurzer Abriss des dahinter verborgenen Konzepts: Im Jahr 2022 haben christliche Putschisten in den USA als Reaktion auf bioterroristische Angriffe eine Diktatur von Bibel und Gewehr etabliert. Dieses Jahr der "Wiedergeburt" wurde als Jahr Null einer neuen Zeitrechnung festgelegt. Es herrscht brutaler Totalitarismus. Drogen werden von der Regierung ins Trinkwasser eingespeist, um vorgeblich die Bevölkerung vor weiterem Terror zu bewahren, sie aber gleichzeitig auch gefügig machen. Wer immer sich der Autorität widersetzt, widersetzt sich Gott. Doch es gibt (gewaltsamen) Widerstand. Und dessen Geheimbotschaften sind nicht nur die Agenten des allmächtigen Büros für Moralität, sondern auch die Reznor-Fans im Jahr 2007 längst auf der Spur. Und jetzt bitte keine Beschwerden über dieses konfuse Szenario, in dem dann auch noch eine riesige Hand auftaucht, die aus dem Himmel auf die Erde greift. Denn die Kampagne dient nicht nur dazu, ein schnödes Album zu promoten: Dieses Album ist lediglich ein Teil des großangelegten Kunstwerks "Year zero", das das eigentliche Ereignis darstellt.
Reznors Basteleien haben eine neue Ebene erreicht. Doch all das wäre die Bits und Bytes nicht wert, die derart aufgescheucht wurden, wenn nicht auch die Musik den Rahmen sprengen würde. Der beinahe organische Bandsound von "With teeth" geht in Reznors elektrischen und elektronischen Frickeleien auf. Nur hin und wieder hat er sich Schlagzeugweltmeister Josh Freese, Chefankläger Saul Williams und ein paar Bläser in die Dunkelkammer geholt. Schon das eröffnende "Hyperpower!" schreit, donnert und wummert aus allen Rohren, um sich sein Ausrufungszeichen zu verdienen. Und mit dem Ohrwurm "The beginning of the end" stürzt sich das Album endgültig in die marode Zukunft.
Schon springt einem die Single "Survivalism" mit weit aufgerissenen Augen entgegen. "I got my propaganda, I got revisionism / I got my violence in high def ultra-realism." Auf irgendeinem fiesen Pulver hetzt der Erzähler durch verleugnete Wahrnehmungen, einfach nur, um zu überleben. "I am trying to believe", heißt es gleich darauf. "The good soldier" ringt mit seinen Überzeugungen, während ihm zum verführerischen Groove sein Gewissen abhanden kommt. Und das shuffelnde "Capital G" sabbert vor Machtgeilheit, Selbstgerechtigkeit und Zynismus. "Well, I used to stand for something / But forgot what that could be." Dass einem bei diesen zwielichtigen Charakterstudien immer wieder unvermutete Melodien entgegentaumeln, ist nur ein weiteres Zeichen von Reznors Könnerschaft. Doch diese Melodien wirken selten sofort und unmittelbar. Sie verbreiten sich vielmehr wie ein heimtückischer Virus.
Sogar der Tonträger selbst macht mit im Verwirrspiel: Er verändert nach ausreichend langer Benutzung sein Aussehen und gibt neue Rätsel auf. Ebenso brechen nach und nach auch all die verschiedenen Schichten und Perspektiven dieser alternativen Realität hervor - und verschwinden wieder. Während zunächst vor allem die rhythmische Prägnanz des Albums in ihren Bann zieht und die Knie schlottern läßt, verblüffen bald die gelenkigen Refrains von "Meet your master" oder "The great destroyer". Dann reiben sich malträtierte Synthesizer, Zahnarztbohrergitarren und andere Geräuschkaskaden gegeneinander wie tektonische Platten, und der Parasympathikus reagiert mit Angstschweiß und Gänsehaut. Man sträubt sich mit "Me, I'm not", zittert im Takt mit "The warning" und erschaudert zur brillanten Zweifelhymne "In this twilight". Als man längst Teil der Geschichte geworden ist, stellt der abschließende Schaltkreisgospel "Zero-sum" gleich das ganze Dasein in Frage. Was ist richtig, was ist falsch? Wem kann man noch trauen? Ständig ertappt man sein Unterbewußtsein bei der Suche nach greifbaren Erklärungen, nach Hilfe, nach Rettung. Doch die meisterliche Choreographie von Klängen, Stimmen und Rhythmen gestattet immer nur kleine Einsichten. Wie beim heimlichen Blick durchs Schlüsselloch. Der war immer schon der spannendste.
Highlights & Tracklist
Highlights
- The beginning of the end
- The good soldier
- The great destroyer
- In this twilight
- Zero-sum
Tracklist
- Hyperpower!
- The beginning of the end
- Survivalism
- The good soldier
- Vessel
- Me, I'm not
- Capital G
- My violent heart
- The warning
- God given
- Meet your master
- The greater good
- The great destroyer
- Another version of the truth
- In this twilight
- Zero-sum
Im Forum kommentieren
Marküs
2023-08-26 10:59:31
Beste NIN, spätes absolutes Diskografie Highlight! Danach ging's bergab
ijb
2023-08-25 20:09:52
Ich mochte es zwar immer, aber: ja, ich find auch, das war das letzte großartige, kreativ-eigenwillige NIN-Album, in einer Reihe wirklich durchweg hervorragender Alben. Danach leider fast nur solide Variationen des zuvor Erreichten.
"Bad Witch" fand ich dann noch einmal richtig stark.
Ach ja, „Year Zero Remixed“ ist auch sehr, sehr gut!
Affengitarre
2023-08-25 19:20:37
Ich hab das Album immer etwas unterschätzt. Es war mir zu elektronisch, zu wenig rockig, zu krachig und gleichzeitig zu poppig. Mittlerweile bin ich glücklicherweise ziemlich begeistert. Dieser lärmende, elektronische Sound ist super interessant und steht in der Diskografie meiner Meinung nach auch für sich, die Stimmung ist immer wieder herrlich dunkel und gleichzeitig schreibt Reznor einen Hit nach dem anderen.
Rainer
2020-07-22 18:52:31
Die letzten drei Releases unter dem Bandnamen fand ich eigentlich ganz ordentlich. Hätte aber mal lieber ein Album aus den Highlights werden sollen. Aber egal, ich will mich ja über die Quantität nicht beschweren. "Year Zero" war halt eben noch ein umfassendes Konzept, was er so in der Form dann nicht mehr gemacht hat. Ansonsten geh ich da mit.
qwertz
2020-07-22 18:25:01
Neulich als Trump sich den Weg zur Kirche freiräumen ließ und mit der Bibel posierte, kam mir sofort wieder dieses Album in den Sinn. Wenn ich mich recht erinnere, waren im Inlay des Digipacks auch Fotos von zwei Händen - in der eine die Bibel, in der anderen ein Maschinengewehr.
Wie dem auch sei: Jetzt mal wieder gehört und immer noch für sehr, sehr gut befunden. Wie schön knarzig und dronig der Sound ist. Klar, die Texte wie oft bei NIN etwas zu plakativ, aber das Worldbuilding mit seinen Soundscapes ist schon beeindruckend.
...für mich sein letztes wirklich großes Werk. Danach kam für mich nur noch nettes Score-Gedudel oder Selbstaufgüsse.
Da stimme ich zu. Vielleicht ist "Year Zero" sogar mein liebstes.
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